Das Evangelische Wort

Sonntag, 03. 03. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Pfarrer Dr. Christoph Weist

 

"Mich aber, Herr, kennst du und siehst mich und prüfst mein Herz vor dir." (Jer 12,3)

 

"Subjektiv hast du das Gefühl, gut unterwegs zu sein, objektiv schaut dann alles anders aus. Das ist die schlimmste Tatsache überhaupt." Mit diesen Worten hat dieser Tage ein ehemaliger Schirennläufer seinen Zeitungskommentar über die Leistungen des österreichischen Schiteams bei den Olympischen Winterspielen in Salt Lake City abgeschlossen.

 

Keine Angst, ich möchte mich heute morgen nicht auch der langen Reihe derer zugesellen, die das Abschneiden der österreichischen Winter Olympioniken in allem Für und Wieder diskutieren, ich verstehe davon viel zu wenig. Ein paar nachdenkliche Worte verlieren möchte ich aber über "die schlimmste Tatsache überhaupt", über das subjektive Gefühl, "gut unterwegs zu sein", das objektiv nicht stimmt.

 

Was hier ein Sportler aus eigener Erfahrung als eher technisches Problem schildert, als starkes Hindernis für den Sieg, hat natürlich nicht nur mit Leistungssport zu tun. Es ist ein Problem, das jedes Leben "fest im Griff" hat. Schätze ich mich und meine Fähigkeiten richtig ein? Überschätze ich mich etwa, während andere meine Grenzen längst glasklar erkannt haben und mich dementsprechend einzuordnen wissen?

 

Gerade Ältere, zu denen ich mich auch langsam zu zählen habe, stehen in dieser Gefahr und entkommen ihr trotz all ihrer angeblichen oder tatsächlichen Erfahrungen nur schwer. Dass hier für Familien und das Zusammenleben der Generationen überhaupt viel Sprengstoff verborgen liegt, ist nichts neues. Aber auch jüngeren Menschen, denke ich, ist Selbstüberschätzung nicht gerade fremd und führt immer wieder zu schwierigen Situationen für sie und für andere.

 

Das subjektive, aber nicht unbedingt zutreffende Gefühl, gut unterwegs zu sein, hat zwei Seiten. Es kann hemmen und zu Problemen führen, für manchen "die schlimmste Tatsache überhaupt". Es kann aber auch eine Basis bilden für die Zuversicht, mit der - ganz objektiv - Neues und Ungewohnte angepackt wird. Und zwar ohne Wenn und Aber, das gute Initiativen im Keim erstickt.

 

Der biblische Prophet Jeremia hat seinem Gott gegenüber einmal festgestellt: "Mich aber, Herr, kennst du und siehst mich und prüfst mein Herz vor dir."

 

Das heißt nicht, dass das menschliche Leben mit einem olympischen Wettkampf zu vergleichen ist, bei dem bekanntlich nur die Goldmedaille wirklich zählt und alle, die etwas tiefer oder gar nicht "auf dem Stockerl" zu stehen kommen, mit einem enttäuschten Achselzucken abgetan werden.

 

Das heißt aber, dass das Bild, das ich von mir selbst habe, und das gut, aber auch objektiv sehr unrealistisch sein kann, ein Korrektiv benötigt. Für den christlichen Glauben ist dieses Korrektiv der Gott, der die Menschen geschaffen hat und der sie in allem Hin und Her ihres Könnens und Nichtkönnens, ihres Edelmutes und ihrer Bosheit, ihre Liebe und ihres Hasses, ihrer Unschuld und Schuld ganz einfach liebt. Bei einem solchen Gott schließt sich die tiefe Kluft zwischen subjektiver Selbstüberschätzung und objektiver Unzulänglichkeit. Diese Kluft, die zu Frustration, Enttäuschung und Scheitern führt, kennt Gott - davon ist christlicher Glaube überzeugt - von beiden Rändern her. Und daher ist sie nicht "die schlimmste Tatsache überhaupt". Denn wenn ich mich entschließen kann, sich auf Gott und sein Wissen über mich zu verlassen, kann ich mit dieser Kluft leben, - im Einklang mit mir selbst.

 

Denn: Mich aber, Herr, kennst du und siehst mich und prüfst mein Herz vor dir." Was da wohl das subjektiv-objektive Ergebnis ist?