Das Evangelische Wort

Sonntag, 10. 03. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Pfarrerin Christine Hubka, Wien

 

 

Als Bartimäus hörte, dass es Jesus von Nazareth war, der vorüber ging, fing er an zu schreien... Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr. (Markus 10, 47 – 48 i. A.)

 

Ein Kind kommt auf die Welt.

Die Mutter, der Vater, die Hebamme warten.

Gespannt. Hoffnungsvoll. Ängstlich.

Ist es gesund?

Wird es leben?

Dann der erste Schrei.

Die Spannung weicht.

Das Kind atmet.

Das Kind lebt.

Die Freude ist da.

 

Es ist das erste Mal im Leben eines Menschen,

es ist das erste Mal im Leben jedes Menschen,

dass sein Schreien erwartet und freudig begrüßt wird.

 

Dieser erste Schrei ist auch der letzte,

der erwartet und gewünscht wird.

Ab nun ist schreien unerwünscht.

Das Baby soll ruhig sein.

Das Baby soll nicht schreien.

Nicht, in der Straßenbahn.

Das stört die anderen Fahrgäste.

Nicht in der Kirche.

Das stört die Andacht.

Nicht in der Wohnung.

Das stört die Nachbarn.

 

Babys, die viel schreien,

werden Schrei - Babies genannt.

Für sie gibt es im Krankenhaus eine eigene Ambulanz.

Sind Menschen, die schreien, krank?

 

Das Kind wird größer.

Es spielt im Hof.

Es spielt im Park.

Es schreit: Toooor!

Es schreit, wenn es hinfällt.

 

Das Schreien belästigt die Leute.

Sie sagen der Mutter:

"Ihr Kind ist so laut.

Ihr Kind ist ein schlimmes Kind.

Sind Menschen, die schreien, schlimm?

 

Wenn das Kinde erwachsen ist,

hört es auf, zu schreien.

Erwachsene schreien nicht.

Wenn sie Schmerzen haben,

beißen sie die Zähne zusammen.

Sind Menschen, die schreien, wehleidig?

 

Wenn Erwachsene wütend sind,

beherrschen sie sich.

Wer sich nicht beherrscht,

gilt als böse.

Sind Menschen, die schreien, gefährlich?

 

Wenn Erwachsene Angst haben,

verstummen sie.

Wer vor Angst schreit, gilt als feig.

Sind Menschen, die schreien, feig?

 

Bartimäus hat geschrieen:

Aus Angst, dass Jesus vorüber geht,

ohne ihn zu bemerken.

Aus Schmerz darüber,

dass er blind ist.

Aus Wut,

weil er immer nur am Rande der Gesellschaft leben durfte.

Bartimäus hat geschrieen.

Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen.

Jesus aber hört sein Schreien.

Er fragt: Was willst du, das ich für dich tun soll?

 

Denn das Schreien eines Menschen

Ist in Gottes Ohren

nicht böse und nicht störend.

Vor Gott ist es auch nicht feig oder unbeherrscht.

 

In Gottes Ohren ist das Schreien eines Menschen

ein Notruf.

Es ist der letzte mögliche Ausdruck,

der dem Klagenden bleibt,

wenn er nichts mehr sagen kann.

Wenn er nicht mehr beten kann.

 

Am Karfreitag hören wir,

dass Jesus zuletzt laut geschrieen hat.

Danach ist er gestorben.

 

Markus Omofuma

Hatte vor seinem Tod nicht einmal mehr diese Möglichkeit.

Denn man hat ihm den Mund verklebt.

 

Als Bartimäus hörte, dass es Jesus von Nazareth war, der vorüber ging, fing er an zu schreien... Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr. (Markus 10, 47 – 48 i. A.)