Das Evangelische Wort

Sonntag, 07. 04. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Mag. Gisela Ebmer

 

"Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; das ist das kleinste unter allen Samenkörnern; wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, sodass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen."

 

Eins meiner Lieblingsthemen beim Unterrichten ist Jesu Botschaft vom Reich Gottes. Die 12-jährigen Buben und Mädchen können sich meist nicht sehr viel drunter vorstellen. Ja, irgendwann nach meinem Tod komm ich dann vielleicht in den Himmel, aber das ist noch weit weg, das geht mich einstweilen noch nix an. – Das höre ich meist als erste Reaktion.

 

Dann schildere ich den Kindern die Situation der Menschen zur Zeit Jesu: Stell dir vor, du gehst heute in der Früh in die Schule, und auf dem Weg triffst du ständig auf Soldaten mit Maschinengewehren. Du musst aufpassen, was du mit deinen Freunden redest. – Wer etwas Kritisches sagt, wird verhaftet, entführt, getötet, gilt als verschwunden. Du hast Glück, dass du überhaupt in die Schule gehen kannst, denn deine Eltern müssen so hohe Steuern an die römischen Besatzer zahlen, dass kaum Geld für deine Ausbildung und den Lebensunterhalt übrigbleibt. Und Gott sei Dank sind deine Eltern gesund. Der Vater deiner besten Freundin hat sich beim Hausbauen schwer verletzt, und muss jetzt mehrere Monate liegen. Wie soll ihre Familie überleben? Die Kinder werden wahrscheinlich auf die Straße zum Betteln geschickt, die Mutter muss zuhause beim Baby bleiben. Du selber hast viele Geschwister, weil deine Eltern hoffen, dass ihr sie versorgen könnt, wenn sie alt und schwach sind, dass ihr dann für sie die Steuern zahlen könnt, das Wohnen und das Essen. Und jeden Tag siehst du am Marktplatz die Arbeitslosen sitzen, die wegen der hohen Abgaben ihr Land verkaufen mussten, weil sie von der Landwirtschaft nicht mehr leben konnten. Sie suchen wenigstens für einen Tag Arbeit, damit sie am Abend nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Du verfluchst die Römer für das, was sie deinem Volk antun und überlegst dir, wie du wohl mit ihnen umgehen wirst, wenn du erwachsen bist. Sollst du ein Zelot werden, ein Terrorist, der die Römer mit Gewalt des Landes verweist? Sollst du schauen, dass sie dich wenigstens verschonen, immer nett und freundlich sein und ihnen Geschenke machen, so wie es die Sadduzäer tun? Oder sollst du dich der Partei der Pharisäer anschließen, fleißig beten, dass Gott einen Retter schickt, deine Frömmigkeit zur Schau stellen? Oder dich lieber aus allem raushalten, dich zurückziehen in eine Gemeinschaft am Toten Meer?

 

Aber da fällt dir ein, was Jesus gesagt hat: Das Reich Gottes ist jetzt schon da. So winzig klein wie ein Senfkorn. Es ist noch nicht da, weil es noch nicht gewachsen ist. Aber du kannst es jetzt schon sehen. Du brauchst nur mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.

 

Da fragen mich dann meine SchülerInnen immer: Wo ist denn heute das Reich Gottes, dieses Senfkorn?

 

Schau: Du kannst in die Schule gehen und den Beruf lernen, der dich interessiert, egal wie arm oder reich deine Eltern sind. Der Staat bezahlt deine Ausbildung zumindest bis du 18 Jahre alt bist. Wenn deine Eltern krank sind, müsst ihr nicht verhungern, weil sie ihr Gehalt für einige Zeit weiterbezahlt bekommen. Dein Opa und deine Oma haben ihre eigene Wohnung, ihre Waschmaschine, ihren Fernseher. Obwohl sie schon lange nicht mehr arbeiten und kein Geld verdienen. Und als du geboren wurdest, hattest du das Glück, dass Mama oder Papa dich zuhause versorgt haben, weil sie dafür Geld bekommen haben und nicht arbeiten mussten. Wenn du Zahnweh hast, hilft dir der Zahnarzt ohne dass du zahlen musst.

 

Das Reich Gottes ist schon da in unserem schönen Land. Aus dem Senfkorn zur Zeit Jesu ist schon eine kleine Pflanze geworden. Aber wir müssen darauf aufpassen: Dass wir in Österreich einen so hohen sozialen Standard erreicht haben, ist für viele zur Selbstverständlichkeit geworden. Aber gerade weil die Pflanze noch klein ist, braucht sie unseren Schutz und unsere Pflege: Achtet auf das Senfkorn. Vergesst es nicht und lasst es wachsen, damit ein Baum daraus wird, indem die Vögel des Himmels ihre Nester bauen.