Das Evangelische Wort

Sonntag, 21. 04. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Pfarrer Dr. Klaus Heine (Mödling, NÖ)

 

Jesus spricht: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei. (Joh. 8 v 32.36)

 

"Aber er hat ja gar nichts an!" Dieser Ausruf aus Kindermund am Ende des Märchens "Des Kaisers neue Kleider" hat befreiende Wirkung. Er beendet den Mummenschanz aus falschem Stolz und Heuchelei und lässt die Wahrheit ans Licht treten, dass nämlich der Kaiser zwei Betrügern aufgesessen ist und statt eines prächtigen neuen Gewands gar nichts anhat. Es gibt offenbar bei vielen Menschen Wahrnehmungs- und Denkhemmungen, ja auch Angstblockaden, die den Weg zur Wahrheit verbauen. Wie gut, wenn ein Kind so unmittelbar und einfältig sagen kann, wie sich die Sache wirklich verhält, und ein befreiendes Gelächter die Situation entspannt.

 

Manche Tabus sind bei uns abgebaut und beseitigt worden. Fragen der Sexualität z.B. werden breit und ausführlich in aller Öffentlichkeit erörtert, manchmal allerdings auch in einer Sprache, die schmerzt, weil sie nicht nur die Würde von Mann und Frau verletzt, sondern auch den letzten Rest eines erotischen Geheimnisses zerstört.

 

Es gibt aber auch neue Regeln sexueller oder politischer Korrektheit. Die deutsche Sprache wird oft genug gequält und missbraucht, wenn sie als Waffe im Kampf der Emanzipation dienen soll. Unbedingt müssen überall die weiblichen Endungen angefügt werden, koste es, was es wolle. In diesem Sinn "korrekte" Texte sind kaum noch lesbar. Wer das als Unfug bezeichnet, wird als unverbesserlicher Macho angeprangert.

 

Wer sich zwar dem Protest gegen den blutigen Terror von Islamisten anschließt, aber auch darauf hinweist, dass er zumindest im Zusammenhang steht mit dem Terror, den ein globalisiertes Wirtschaftssystem auslöst, gilt als antiamerikanisch.

 

Wer die palästinensischen Selbstmordattentate verurteilt, aber auch vor Augen stellt, dass das jüngste nahöstliche Desaster mit dem provozierenden Besuch Scharons und seiner Begleiter auf dem Tempelberg begann, und dass seine Kriegspolitik für beide Völker ins Ausweglose führt, unterliegt dem Verdacht des Antisemitismus.

 

Es verhält sich schwierig mit der befreienden Wahrheit im Umkreis von Denkhemmungen, Ängsten und Sprachlosigkeit. Vielleicht lebt es sich im Minenfeld der mitmenschlichen Beziehungen und ihren ungelösten Konflikten tatsächlich manchmal besser mit Lebenslügen. Wer hält denn die Wahrheit aus? Eine zynisch ausgesprochene Diagnose am Bett des Krebspatienten kann wie ein Todesurteil wirken und jede Hoffnung ersticken. Da ist es tatsächlich nicht weit her mit dem befreienden Charakter von Wahrheit.

 

Das negative Beispiel zeigt aber schon, worauf es ankommt. Die Wahrheit, die befreit, ist kein abrufbares Wissen, kein verfügbarer Erkenntnisstand oder ein kluges Kalkül. In den Worten Jesu ist sie personal gebunden und trägt Beziehungs- und Ereignischarakter. Die Wahrheit, die befreit, ist der Gottgesandte selber, der die Wahrheit Gottes in unserer Mitte erlebbar macht. Es ist ein Prozess wie das Aufstrahlen des Lichts im Dunkel.

 

Dazu gehört die mühsame und oft bittere Einsicht in die Gebundenheiten durch die Lasten der Vergangenheit, das peinliche Eingeständnis des eigenen Versagens und die damit gegebene Angreifbarkeit durch die Feinde. Aber das Licht des Gottgesandten deckt nicht nur alles kalt auf, es enthält zugleich die belebende Wärme der Liebe Gottes. Ein neuer Aufbruch ins Leben folgt der erschreckenden Einsicht in die menschliche Bosheit. Im Licht dieser Lebenshoffnung können Blockaden durchbrochen und Dinge beim Namen genannt werden. Es ist ein schöpferischer Vorgang, der sich im Fluidum des Gottgesandten ereignet. Durch seine befreiende Wahrheit wird uns ein grundsätzlicher und umfassender neuer Anfang geschenkt.

 

Wahrheit, das ist die Verlässlichkeit Gottes im Auf und Ab der Geschichte, die Treue seiner schöpferischen Liebe und des Willens zu einem Leben in seinem Frieden.

 

Diese befreiende Wahrheit wünsche ich mir so einfältig wie das Kind in Andersens Märchen für den Nahen Osten für die Krisengebiete der Welt und für unseren Alltag in Österreich.