Das Evangelische Wort

Sonntag, 28. 04. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Oberkirchenrat Dr. Michael Bünker

 

 

Sonntag, 28. April 2002

 

Das Lukasevangelium erzählt: Als Jesus in Jerusalem einzog, wurde er von den Menschen und als König begrüßt. Seine Jünger riefen ihm zu: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige seiner Gegner in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn die schweigen werden, dann werden die Steine schreien!

(Lukas 19, 38-40)

 

Es ist ein Familienfoto wie viele andere. Offensichtlich schon alt, schwarz weiß. Drei Personen sind zu sehen, Eine Frau und zwei Kinder. Das kleine Kind hält die Frau – seine Mutter - am Schoß. Drunter steht in Kurrent geschrieben: Zur Erinnerung an Gerli. Gerli – Gerhard – wurde 1942 von irgendeinem Nazidoktor ermordet. Gerli war eineinhalb Jahre alt. Heute – sechzig Jahre später - wird er beerdigt.

 

In Wien findet heute am Nachmittag eine besondere Trauerfeier statt. In einem Gedenkakt werden die sterblichen Überreste der sogenannten Spiegelgrundopfer der Nazi Euthanasie bestattet. Ihr Schicksal ist lang totgeschwiegen worden. Fast sechzig Jahre lang. Am Wiener Spiegelgrund, einem Teil der Klinik am Steinhof, wurden ab 1939 tausende Menschen ermordet. Damals hieß das Vernichtung unwerten Lebens. Eine verbrecherische Politik hat dazu geführt und mörderische Vorstellungen von Gesundheit und Normalität. Eine willfährige Medizin hat ihre Forschung an den Opfern betrieben. Berühmte und bekannte Ärzte haben vor und nach 1945 ihre Karrieren auf den Leichen dieser Kinder gebaut. Totgeschwiegen, das alles, über Jahrzehnte. Die Überreste der Opfer, die als wissenschaftliche Präparate galten, wurden aufbewahrt in Kellern, auf Dachböden, in Archiven. Nun wurden sie gesammelt und finden ihre letzte Ruhe.

 

Im Sommer 1939 beginnen die Euthanasiemorde. Insgesamt fallen rund 70 000 Menschen den Mördern zum Opfer. Vor allem Behinderte. Vor allem Kinder. Da und dort regt sich Protest dagegen, besonders von Christinnen und Christen. Wo der Protest laut und öffentlich ist, hören die Mörder bald auf. Nur dort, wo das Wegschauen vorherrscht, das Nichtwahrhabenwollen, der Gehorsam der Obrigkeit gegenüber, die Untertanengesinnung, das Totschweigen, dort geht die Todesmaschine weiter. Totschweigen tötet. Aber Jesus sagt: Wenn die schweigen, ja, wenn alle schweigen, dann werden die Steine schreien.

 

Und dann die Zeit danach, nach 1945, der Befreiung vom Naziterror: Niemand hat sich darum gekümmert. Die belasteten Ärzte kamen nie oder viel zu spät vor Gericht. Die Wahrheit blieb weg gesperrt und unter Verschluss. Es hat zum Teil den Mut von einzelnen gebraucht, um hier die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Der Arzt Werner Vogt ist einer von ihnen. Er hat viel riskiert, als er begann die Wahrheit über einen damals anerkannten und angesehenen Primarius aufzudecken. Totschweigen - meine ich - ist in Österreich gang und gäbe. In Wien, der Stadt Siegmund Freuds ganz besonders.

 

Wie ist das, wenn wir uns den schrecklichen Dingen der Vergangenheit stellen? Manche meinen, es wäre mit Selbstbezichtigung, Kollektivschuld und dauernder Anklage verbunden. Ich sehe das nicht so. Es erfüllt mich zuerst einfach mit der Trauer darüber, dass das alles hier unter uns möglich gewesen ist. Und dazu kommt die Wachsamkeit, dass es nie wieder zu solchen Verbrechen kommt.

 

Jesus ermutigt dazu. Er verspricht, dass die Wahrheit die Menschen frei macht.

 

Das ist ein Stück glaubwürdiger, seit das Schicksal Gerlis nicht mehr totgeschwiegen wird.

 

Bring deine Jünger zum Schweigen!, rufen die einflussreichen Gegner Jesus zu. Nein, sagt er drauf, denn wenn diese schweigen, dann werden selbst die Steine schreien!