Das Evangelische Wort

Sonntag, 05. 05. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Pfarrerin Renate Rampler (Agoritschach-Arnoldstein, Kärnten)

 

 

 

Auf, mein Herz, preise den Herrn!

Alles in mir soll den heiligen Gott rühmen!

Mit guten Gaben erhält er mein Leben,

täglich erneuert er meine Kraft

und ich bleibe jung und stark wie ein Adler.

Psalm 103, 1+5

 

Was mich an diesem Psalmwort immer wieder fasziniert ist der Vergleich mit dem Adler, mit diesem Symbol für Freiheit, Ungebundenheit und Größe.

 

Jung und stark sein wie ein Adler, das möchte ich manchmal. Fliegen können, ohne von Grenzen festgehalten zu werden. Das ist ein Traum der Menschen durch die Jahrhunderte. Jung zu sein und zu bleiben, ohne durch die Mühen des Alters an die Begrenztheit unseres Lebens erinnert zu werden – nach diesem Ideal strebt unsere Gesellschaft. Wie nah sind wir diesen Träumen schon gekommen! –

 

Fliegen haben wir gelernt, nicht nur über Landesgrenzen hinweg. Wer will, der kann sogar den Weltraum erobern. Wenn es sein muss als gut zahlender Tourist. Es lässt sich alles machen. Auch der ewigen Jugend sind wir auf der Spur. Wo ´s vielleicht doch noch nicht ganz klappt, da kann ja die Pharma – Industrie mit Cremen und Tipps und Kuren beistehen. Oder der Schönheitschirurg kann noch nachhelfen. Den Glauben an Gott brauchen wir dafür eigentlich gar nicht. Wir leben nach dem Motto „Was denkbar ist, ist machbar“. Ganz durch uns. Es lebe der Mensch!

 

Wie nah sind wir – aus eigener Kraft – unseren Träumen gekommen! Und wie weit sind wir von ihnen entfernt.

 

Fliegen haben wir gelernt. Die Freiheit haben wir dabei aber nicht gefunden. Nicht nur, weil die Flughäfen wie Festungen gesichert sind. Auch auf dem weitesten Flug gelingt es mir nicht, meine eigene „Erdenschwere“ hinter mir zu lassen. Meine Grenzen nehme ich doch wieder mit, meine Sorgen, meine Wünsche, meine Ängste.

 

Auch die ewige Jugend hat ihre Schattenseiten. Irgendwann macht der Körper dann doch nicht mehr mit. Irgendwann lässt sich vielleicht noch der Spiegel, aber nicht mehr der Blutwert austricksen. Irgendwann stehen wir doch vor der letzten Grenze, vor der des Todes. Und dann sind wir oft hilflos wie ein Kind, weil wir mit dem Tod nicht leben gelernt haben.

 

„Täglich erneuert Gott meine Kraft und ich bleibe jung und stark wie ein Adler“. Ist das auch nicht mehr als ein frommer Wunsch, ein schöner Traum? Bei der Arbeit mit Jugendlichen habe ich gelernt, diesen Satz weiter zu sehen. Ich möchte ihn nicht nur für mich, sondern für unsere Gesellschaft lesen und durchbuchstabieren. Für unsere Gesellschaft die über die Vergreisung und über den Werteverlust klagt. Ich möchte nicht in das allgemeine Jammern einstimmen. Ich möchte, mit Gottes Hilfe, diesen Satz mit Leben füllen.

 

Diesen Satz, der bei genauerem Hinsehen in zwei Richtungen geht. Er erzählt nicht nur vom Wunschziel. Er bietet auch eine Basis. Das Vertrauen in Gott. Dort kann ich mich verwurzeln. Von dort beziehe ich Kraft. Diese Basis möchte ich weitergeben. Zu diesen Wurzeln möchte ich Menschen, auch Jugendliche, führen, damit sie – gerade in einer Zeit, des Werteschwundes – wieder Wurzeln bekommen. Wurzeln, aus denen sie Kraft für ihr Leben beziehen können.

 

Ich glaube, dann wird sich auch der zweite Teil des Bibelverses erfüllen: Dann werden sie nach Niederlagen nicht gleich alles aufgeben, sondern wieder aufstehen können. Dann werden sie fliegen. Dann werden sie mit ihren Ideen von einem gelungenen Leben unsere Gesellschaft beflügeln können. Dann werden sie ein Stück weit sogar ihre Sorgen hinter sich lassen können. Dann werden sie vielleicht wie der Psalmist sagen lernen:

 

Auf, mein Herz, preise den Herrn!

Alles in mir soll den heiligen Gott rühmen!

Mit guten Gaben erhält er mein Leben,

täglich erneuert er meine Kraft

und ich bleibe jung und stark wie ein Adler.