Das Evangelische Wort

Sonntag, 30. 06. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Landessuperintendent Pfarrer Mag. Peter Karner, Wien

 

Mauern, Befestigungsanlagen und Basteien sind heutzutage vor allem begehrte Schauobjekte für Tourismus und Fremdenverkehr. Je nach Laune stehen Billigreisende erschauernd oder gelangweilt vor den Zeugen längst vergangener Kriegstechnik und die Gebildeteren unter ihnen erinnern sich an so manchen "historischen Schinken", den sie im Fernsehen gesehen haben. Und Michael und Kathi - mit einer Jugendgruppe unterwegs –haben genauso wie andere kulturbeflissene Teenager die alten Mauern schätzen gelernt, weil sie hier ihre Sommerliebe verewigen können:

"Michi und Kathi 2002 - und ein Herz drum herum. Aber, das haben schon die antiken Liebespaare getan.

 

Wer die Gefahr nicht scheut, reist auch in den nahen Osten und besichtigt die gewaltigen Reste der ältesten Stadtmauer der Welt: Jericho, eine Stadt, die mehr als 10.000 alt ist. Welche Großmacht hat diese riesigen Mauern zerstört? Und auf einmal wird die Bibel zur interessanten Information:

 

"Da machte sich das Volk Israel früh morgens auf und zog siebenmal um die Stadt Jericho. Und beim siebenten Mal bliesen die Priester die Posaunen. Und als das Volk die Posaunen hörte, da erhoben sie ein großes Kriegsgeschrei. Da fielen die Mauern in sich zusammen. Und das Volk nahm die Stadt ein." (Josua 6/i.A)

 

Ein verblüffender Ausgang: mit Lärm die Mauern zum Einsturz zu bringen. Es wäre jetzt falsch und ungerecht zu behaupten, dass alle diese gewaltigen Mauern nicht ihren historischen Zweck erfüllt hätten. Aber seltsamerweise haben sie nur kurze Zeit Schutz geboten. Die ganz großen Mauern - nicht nur die "Chinesische Mauer" - die ganz großen Mauern haben erstaunlicherweise gar nichts gebracht, weil die Zeit sie überrollt hat. Und der "Zahn der Zeit" war oft ein größerer Zerstörer als der Feind.

 

Die Zeit der Mauern ist vorbei! Aber eine anachronistische Politik weigert sich beharrlich, das zu begreifen. So hat die alte DDR rund um das ganze Land eine Mauer gebaut und die Bevölkerung wie in einem Gefängnis gehalten. Offiziell hieß diese Mauer "antifaschistischer Schutzwall" - darüber haben wahrscheinlich auch die roten Bonzen gelacht. Und ein altes Psalmwort/ Ps 18,30 "Mit meinem Gott springe ich über die Mauer!" durfte nicht mehr im evangelischen Losungsbüchlein stehn, weil es klar zur "Republikflucht" aufforderte. Und jetzt werden Brocken der Berliner Mauer als Souvenirs gehandelt. Die hochtechnisierte Mauer hat die "Wende" nicht aufhalten können. Aber das Mauersyndrom, das reaktionäre Hoffnungssymbol "Mauer“ verschwindet nicht so leicht aus dem Arsenal der "Man-braucht-doch-nur-Lösungen". Und so hat Israel vor kurzem die Welt mit der Inangriffnahme eines neuerlichen Mauerbaus überrascht. Der Applaus und die Zustimmung von der falschen Seite ist nicht ausgeblieben: Die Mauer wird den Frieden sichern. Das ist die Lösung für alle diese schrecklichen Nahostprobleme!“

 

Bei den "Frauen in Schwarz - für gerechten Frieden zwischen Juden und Palästinensern" habe ich mich direkt informiert: Die Mauer ist auf 360 km projektiert. Sie besteht aus elektrischen Zäunen, Barrikaden, Betonwällen und Kanälen. Zäune umgeben die autonomen Städte und machen die Bewohner zu Gefangenen im eigenen Land. Betonwälle trennen die Städte von den jüdischen Siedlungen. Einige Wälle gehen auch mitten durch die Städte. Und die Mauer wird auf palästinensischem Gebiet errichtet. Unterernährung, Wassermangel, Abfallberge, gedemütigte Menschen: eine Mauer wohl mit so viel Chancen wie seinerzeit in Berlin.

 

Es steht mir nicht zu, Israel politische Ratschläge zu geben. Noch dazu als Bewohner eines Landes, in dem gar nicht wenige am liebsten auch einen Schutzzaun um das ganze Land ziehen möchten. Aber Israels großes geistliches Fundament, die hebräische Bibel - unser Altes Testament -zeigt in eindrucksvoller Weise, dass Israel kein Volk der Mauerbauer, sondern ein Volk der Mauerzerstörer ist. Wer beten kann "Mit meinem Gott spring ich über die Mauer!“, der weiß auch, dass Friede nur in Freiheit errungen werden kann. Wir alle sollten unsere guten Wurzeln ernst nehmen.