Das Evangelische Wort

Sonntag, 21. 10. 2001,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Pfarrer Franz Lissy-Honegger (Graz)

 

 Jesus sagt: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Matthäus 18,3)

 

Liebe Kinder! Lasst euch die Kindheit nicht austreiben. Schaut, die Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr. Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter- über Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die „überflüssig“ gewordenen Stufen hinter euch und nun könnt ihr nicht mehr zurück. Das sagt Erich Kästner in seiner „Ansprache zum Schulbeginn“.

Was ist das Besondere an der Kindheit, frage ich mich, das man sich nicht austreiben lassen soll?

Da ist sicher einmal das Tagträumen, das hoffnungsvolle Bauen am Lebensentwurf. Das Kind ist Räuber und Prinzessin, Zirkuskünstlerin und Astronaut. Spielen ist Verwandeln, der Boden des Kinderzimmers wird zum Wald voller Dinosaurier oder zum See mit Tisch und Sesseln als Booten. Im Träumen wird das Hier und Jetzt überschritten, transzendiert, ist die Welt offen, ein weiter Raum voller Möglichkeiten zu handeln und zu sein. Einiges davon ist einfach Schale, entnervende Flucht, manches geht später in die Brüche, anderes wird umgebaut und mit Realität angereichert. Träumt einer, so bleibt er niemals auf der Stelle stehen, er lernt zu hoffen.

Das Träumen und die Hoffnung, die sollen nicht ausgetrieben werden, nicht den Kindern, nicht uns Erwachsenen.

Da ist aber sicher auch das Staunen, das Kindsein bestimmt. Staunend sitzen Kinder vorm Kasperltheater und vorm geschmückten Weihnachtsbaum. Sie staunen über die im Netz gefangene Krabbe am Strand, die sie wieder frei lassen müssen, damit sie weiterleben kann. Staunend versinken sie im Bildschirm des Fernsehapparates, was elterliche Verantwortung auf den Plan ruft. Wer staunt, wird von etwas überwältigt. Staunen hat ein Doppelgesicht aus Begeisterung und Bedrohung, aus Faszination und Erbeben. Der Glaube beginnt mit dem Staunen, welches das Gewohnte durchbricht; Religionen fragen nach dem von außen, das uns überwältigen und in Angst und Erleuchtung führen kann. Dankbarkeit und Klage wachsen aus dem Staunen.

Es soll uns nicht ausgetrieben werden, nicht den Kindern, nicht uns Erwachsenen. Da sind schließlich Vertrauen und Liebe, auf die Kinder angewiesen sind. Sie wissen sich geborgen in der Beziehung zu ihren Eltern, ihrer nächsten Umwelt. Der Schmerz darüber, nicht angenommen zu sein, kann wahrscheinlich bei manchen Kindern die Ursachen von plötzlichem Kindstod sein. Meistes aber ist das wachsende Vertrauen von Kindern in die Welt und ihre Menschen unglaublich belastbar, tragfähig und produktiv. Ein Dichter sagt: So dir im Auge wundersam, sah ich mich selbst entstehen. Ein Kind lernt „ich“ zu sagen, wenn es bei seinem Namen gerufen wird, es findet sich in der Liebe der Eltern.

Vertrauen und Liebe sollen uns nicht ausgetrieben werden, nicht den Kindern, nicht uns Erwachsenen. Wer seine Kindheit vergisst, wird nicht weise, sondern nur alt.

Erich Kästner sagt: Lasst euch die Kindheit nicht austreiben. Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch. Ich wünsche den Kindern in diesem beginnenden Schuljahr hoffnungsvolle Träume, staunenden Glauben und angenommene Liebe und uns Erwachsenen, dass wir werden wie die Kinder.