Das Evangelische Wort

Sonntag, 29. 09. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

Superintendent Mag. Theol. Werner Horn

 

"Ach du liebe Zeit", sage ich manchmal, wenn mir ein Blick auf die Armbanduhr deutlich macht, dass die Zeit wieder einmal davonläuft. Täglich schaue ich mehrmals auf die Uhr und mit mir tun es viele ebenso. Der Blick auf das Zifferblatt zeigt nicht nur Zeit und Stunde an, sondern macht mir bewusst, dass unser Leben durch die Zeit bestimmt und befristet ist.

Hugo van Hofmannsthal schrieb einmal: "Die Zeit ist ein sonderbares Ding; wenn man so dahinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie."

Jeder und jede kann das bestätigen. Oft achten wir kaum auf die Zeit. Ein anderes Mal schauen wir ständig auf die Armbanduhr. Wir zählen die Minuten: auf dem Bahnsteig, vor einer besetzten Telefonzelle, vor einer Operation, vor einer wichtigen Besprechung.

 

Es gibt Jahre, in denen wir nicht merken, dass wir älter werden. Und dann gibt es Zeiten, in denen man sich nicht unbedingt mehr so wie früher auf den nächsten Geburtstag freuen kann. Die meisten Güter auf unserer Welt sind ungerecht verteilt. Wenige haben sehr viel, manche einiges und viele sehr wenig. Nur eins haben alle Menschen gleich viel: Zeit. Für jeden hat der Tag 24 Stunden, das sind 1.440 Minuten oder 86.400 Sekunden. Trotzdem hat man den Eindruck, dass vor allem in der westlichen Welt wenige genug Zeit haben und die meisten Menschen viel zu wenig. Wir reden von Zeitnot und klagen über den Zeitdruck, unter dem wir stehen. Wir vertreiben uns die Zeit oder schlagen sie tot. Manchmal sind wir sauer, weil uns jemand die Zeit gestohlen hat. Wir vertrödeln oder gewinnen Zeit, wir nutzen oder verlieren Zeit. Die Armbanduhr wird zum Antreiber und zum Kontrollor der Zeit.

Ich habe keine Zeit, so sagen wir manchmal zu Recht oder zu Unrecht. Wer kann es sich schon leisten zu sagen: Ich habe Zeit! Erwähnen wir unsere Zeitknappheit nicht so gar mit einem gewissen Stolz? Wer immer keine Zeit hat, dessen Stunden müssen wohl kostbar sein und damit er selbst auch. Wenn jemand so nachdrücklich bekennt: "Ich habe keine Zeit, ich bin so eingespannt und unter Druck", hebt das nicht sein Selbstwertgefühl, indem er deutlich macht: "Ohne mich geht eigentlich gar nichts"? Wer dagegen sagt: "Ich habe Zeit!", wird der nicht von vielen Menschen eher als unnützes Glied unserer Gesellschaft angesehen, gar als Schmarotzer?

Wir brauchen immer wieder Zeiten, in denen wir alles aus der Hand legen können: den Beruf und den Haushalt, Termine und Hetze, Verpflichtungen und Sorgen. Manchmal müssen wir in Ruhe aus der Distanz Dinge und Situationen beachten und wieder zu uns selbst finden. "First things first", sagen die Engländer, "die ersten Dinge zuerst". Wichtiges vom Unwichtigen unterscheiden. Und bei allem den eigentlichen Geber und Herrn der Zeit nicht außer acht lassen.

 

Eine der eindrucksvollsten Kirchturmuhren, die ich kenne, befindet sich am Turm einer alten Dorfkirche. Das Zifferblatt trägt statt der Zahlen zwölf Buchstaben. Wenn man sie nacheinander liest, ergeben sie einen Satz. Er lautet: Zeit ist Gnade.

Der Beter des 31. Psalms hat es in seinem Gebet an Gott so ausgedrückt:

"Meine Zeit steht in deinen Händen."