Das Evangelische Wort

Sonntag, 06. 10. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

Pfarrer Dr. Christoph Weist, Wien

Überall in Wien sind die Plakate zu lesen. Sie werben nicht für eine „Nichtraucherzone“, sondern für eine „Nichtraunzer“-Zone. Mir gefällt das. Ich teile nicht die Skepsis mancher, die meinen, man wolle ihnen den Mund verbieten und ganz allgemein Kritik an und in der Gesellschaft und unserer Zeit madig machen. Ich denke, es ist gut, wenn es einmal einen Ort, eine Zeit gibt – mitten in allem, was an Beklemmendem, Bestürzendem derzeit geschieht und noch geschehen wird im kleinen Leben wie in der großen Welt – wenn es bei alledem eine Möglichkeit gibt, die Dinge anders zu sehen.

 

Seit langer Zeit schon ist ein solcher Ort eingerichtet, und immerhin haben die Kirchen dafür gesorgt, dass es ihn gibt. Es ist der Erntedanktag, der in vielen evangelischen Kirchen heute begangen wird. Stellen Sie sich das einmal vor: Vierundzwanzig Stunden nicht nur nicht raunzen, sondern viel radikaler noch als nicht raunzen: nämlich danken!

 

Ursprünglich ging es beim Erntedank um ein Freudenfest am Ende der Ernte auf dem Land. Aber es ging schon immer und es geht heute um mehr als Folklore. Es geht darum, dass nach Abzug aller wunden Punkte in meinem Leben und im Leben der Menschen um mich herum, nach Abzug aller Negativposten in Politik und Gesellschaft, nach Abzug all dessen, worüber ich mich zu Recht oder zu Unrecht kränke und aufrege, dennoch ein ganz beträchtlicher Restposten bleibt. Und den sollte man unter „Dank“ verbuchen.

 

Ich weiß, viele Österreicherinnen und Österreicher hören so etwas nicht besonders gern. Ihre Weltanschauung ist die des halb leeren, nicht die des halb vollen Glases. Eine Weltanschauung, die übrigens viel anstrengender ist als ihre Anhänger und Anhängerinnen es wahrhaben wollen. Sie schützt nicht, wie viele meinen, vor Enttäuschungen, sondern führt von einem Missmut zum anderen. Und vieles, zu vieles gerät dabei aus dem Blick.

 

Etwa dass Krisen immer wieder auch gut ausgehen können. Eine Untersuchung beim Arzt verläuft sehr gut, in der Familie ist nach großem Krach wieder Ruhe eingekehrt, im Beruf hat sich eine neue Aussicht eröffnet.

 

Es gerät auch aus dem Blick, dass nicht nur viele arme und ärmste Menschen unser Land aufsuchen, um Asyl bitten und auf Hilfe hoffen. Sondern dass es noch immer Menschen gibt, junge und alte, die sich unbeirrbar für sie einsetzen und auch keinen Konflikt scheuen, wenigstens für das Allernötigste Sorgen zu tragen. Man darf sie ruhig „Gutmenschen“ nennen, es ist ein Ehrentitel.

 

Aus dem Blick gerät etwa auch, dass die Einigungsbestrebungen der Länder Westeuropas nicht nur Teile ihrer Selbstständigkeit gekostet haben. Vielmehr sind sie der Grund dafür, dass seit mehr als 50 Jahren in dieser Gegend der Erdkugel kein Krieg mehr stattgefunden hat. Wissen Sie, wie es noch vor siebzig Jahren zwischen Deutschland und Frankreich zuging?

 

Ich denke, vierundzwanzig Stunden nicht nur nicht raunzen, sondern einfach Danke sagen, sind da nicht zu viel.

 

Und dass der christliche Glaube sogar eine Adresse nennen kann, an die jeder seinen Dank richten kann, muss auch nicht verschwiegen werden. Es ist ein Gott, der das, was er geschaffen hat, liebt und nicht allein lässt. Und dazu gehören auch seine Menschen. Es ist ein Gott, der hält und trägt, was immer diese Menschen ihm oder einander antun. Es ist ein Gott, der auch an diesem Tag, der eingerichtet ist, ihm Danke zu sagen, einfach da ist. Einfach da. Auch und vor allem für die, die das Danken vergessen haben.