Das Evangelische Wort

Sonntag, 29. 12. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

von Superintendent Paul Weiland

(St. Pölten)

Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes. (Lukas 1/46-47)

So beginnt der Lobgesang Marias im Lukasevangelium. Heute ist Sonntag und für viele Christen auch ein besonderer Feiertag, ein Marienfeiertag. Als evangelischer Christ fällt es mir nicht schwer, dazu ein Evangelisches Wort zu gestalten. Ist doch eine der schönsten Stellen im Neuen Testament, in denen über Gott und von seinen Taten gesprochen wird, eben dieser Lobgesang Marias.

Gerne stimme ich ein in diesen Gesang, in dem Maria nicht sich lobt, sondern sie lobt Gott, der große Dinge an ihr getan hat. Nicht Maria loben, sondern mit ihr Gott loben, das ist die evangelische Position, das ist die Position, in der sich Christen aller Konfessionen wiederfinden können.

Tatsächlich ist die Marienfrage nicht das große Thema, das die Christen trennt, wenngleich an so manche Ausformungen der Marienfrömmigkeit evangelischerseits natürlich kritische Anfragen zu richten sind.

Aber die heute weitaus komplexere und wichtigere Frage ist meines Erachtens, inwieweit es Christen, unabhängig von ihrer Konfession, gelingt, nicht nur verbal nachzusprechen und gedanklich nachzuvollziehen was Maria im Lukasevangelium sagt, sondern mit ihr im vollen Bewusstsein und mit dem Herzen zu bekennen: „Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“

Das ist eine gewaltige Ansage. Eigentlich ein Umsturz wie er größer nicht sein könnte. Die Niedrigen werden erhöht. Die Hungrigen werden gesättigt, die Mächtigen in die Schranken gewiesen, die Traurigen werden getröstet.

Maria spürt und weiß, wer dieser Gott ist und was er will. Es ist der Gott der Gnade, der oben und unten vertauscht. Der sich zu Weihnachten als der zu erkennen gibt, der einen Hang nach unten hat, eine Schwäche für die Leidenden und Armen. Sie nennt er die Seligen, nicht die, die anderen Leid zufügen oder die Reichtümer haben.

Das setzt sich in den Jahren fort. Jesus verkündet die Botschaft von der Gnade, er erzählt von ihr in seinen Gleichnissen, er praktiziert sie im Zuspruch der Vergebung und er lebt sie in der Gemeinschaft mit den Sündern und den Zöllnern.

Aus dieser - wohl zunächst sinnlichen - Erfahrung heraus wird Maria bewusst, wovon und woraus sie eigentlich lebt. Sie erkennt, dass es bei Lebensfragen nicht um die eine oder andere Verfehlung geht, nicht um ein moralisches Vermögen oder Unvermögen, sondern in Wahrheit um die Einsicht, dass die Welt Gott los sein möchte. Gott wieder in das Leben zu bringen, und damit buchstäblich das Unterste nach oben zu kehren und umgekehrt, das ist die Botschaft von Maria, das ist die Botschaft von Weihnachten.

Maria, eine die auch ganz unten ist, spürt das noch, bevor Gott Mensch wird hier auf Erden. An diesen Gott glaubt sie trotz aller Anfeindungen und Unterstellungen. Denn ihr Leben ist umgedreht, umgewertet. Weil sie ihr Leben und ihr Selbstverständnis von diesem Gott der Gnade her interpretiert, denkt und handelt sie anders als eine oder einer, der sich einem Schicksal ausgeliefert fühlt oder sich in den Kategorien einer Katastrophen- oder Verfallsgeschichte eingeordnet sieht.

Wer an diesen Gott der Gnade glaubt, der erfährt, dass meine Welt in Ordnung kommt. Nicht mit Gewalt und Gegengewalt, sondern durch Erbarmen erfüllt sich die große Sehnsucht des Menschen nach Gerechtigkeit und Frieden.

Deshalb spricht Maria: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes. Denn er hat große Dinge an mir getan und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht.