Das Evangelische Wort

Sonntag, 15. 12. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

Univ. Ass. Dr. Hellmut Santer, Evang.-theol. Fakultät der Universität Wien

Es gibt eine Form von Armut unter uns, die besonders jetzt vor Weihnachten grassiert und die nicht mit Geld oder Spenden zu bekämpfen ist. Diese Armut zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten und Berufsgruppen: arm sein an Sinnerfahrung.

Entblößte und nackte Seelen laufen durch die Straßen und Geschäfte. Die Hände vielleicht mit Geschenken bepackt, die Körper mit warmen Jacken bedeckt - aber die Augen betteln um einen Funken Wärme und Ruhe, ein Zeichen von Sinn. Den Geschmack des letzten Essens noch auf der Zunge, sind sie doch hungrig nach einem Bissen Leben-Spüren.

In keiner Zeit des Jahres sind freie Plätze in den Beratungsstellen und den psychotherapeutischen Praxen so gesucht wie jetzt vor Weihnachten. Überall in den Straßen funkeln die Lichter, über Tage und Wochen wird dieser eine Abend vorbereitet; in den Firmen und an vielen anderen Stellen wird vielleicht noch rasch eine kleine Adventfeier organisiert, um ein wenig Stimmung miteinander zu erzeugen; gerade dann aber wird es für manche besonders eng ums Herz. Die Stimmigkeit im Leben fehlt und das Schuhwerk für die Wanderung durchs Leben fühlt sich löchrig an.

Wenn wir einem Tag im Jahr so viel Bedeutung verleihen, dann wird die Frage besonders drängend, was in meinem Leben überhaupt Bedeutung hat. Wovon wird mein Leben geprägt und bestimmt, wovon lasse ich mich bestimmen? An welchen Zielen orientiere ich mich? Verwende ich meine Zeit und meine Energie für die richtigen Dinge? Wie soll es weiter gehen? Solche Fragen brennen kalt in den Händen, kriechen als Frage nach dem Sinn im Körper hoch.

Wenn man Kinder beim Spielen beobachtet, dann kann manchmal verwundern, welche einfachen Dinge große Aufmerksamkeit bekommen und mit Hingabe wichtig genommen werden. Gegenstände von scheinbar geringem Wert können für Stunden beschäftigen, Kämpfe mit Phantasiegestalten oder das Nachstellen von Familienleben mit Puppen und Teddybären können mit allen Sinnen fesseln. Nicht umsonst wird zu Weihnachten auch gerne von den großen Kinderaugen geredet oder Unterhaltungssendungen im Fernsehen mit Kindern geschmückt: Kinder lassen sich noch überraschen, wollen noch entdecken, was das Leben zu bieten hat; sie nehmen, was ihnen begegnet und verleihen dem Bedeutung, was gerade da ist. In der Freude und in der Begeisterung ebenso wie in der Enttäuschung, der Angst oder dem Hoffen und Warten.

Wenn wir als Erwachsene durch Kinderaugen unser Leben betrachten würden - könnte es sein, dass wir dann Kleinigkeiten im Alltag wieder mehr Aufmerksamkeit schenken? Dass wir unseren Träumen und Phantasien wieder einen anderen Stellenwert geben? Könnte es sein, dass wir dann weniger auf große Ziele und Vorstellungen von Glück hinleben und vielmehr dem Bedeutung verleihen, was gerade da ist? Könnte es sein, dass wir Enttäuschungen nicht nur Schlucken, sondern ausführlich beweinen und den nächsten Tag mit neuem Mut beginnen?

Und könnte es sein, dass wir uns dann auch wieder berühren lassen von der befremdenden Botschaft, dass Gott Mensch geworden ist? Dass er zu uns kommt in die Armut an Sinnerfahrung? "Fürchtet euch nicht - ich verkündige euch große Freude, die allen Menschen gilt: denn euch ist heute der Heiland geboren" heißt es in der Weihnachtsgeschichte. - Ein Blick auf unser Leben von ganz woanders her. Unser Alltag öffnet sich in den Glauben daran, dass Sinn gefunden und geschaffen werden kann. Nicht dann, wenn wir das nächste Ziel erreicht haben, wenn dieser Abend der Abende kommt oder wenn ein anderes großes Ereignis endlich stattfindet. Stimmigkeit finde ich in dem Moment, in dem ich mir durch Gott Bedeutung verleihen lasse, reich werde ich in dem Augenblick, in dem ich mein Leben in aller Einfachheit wichtig nehme so wie es gerade ist. Mein gutes Schuhwerk auf dem Weg durchs Leben besteht darin, dass ich lachen kann und dass ich weinen kann; genährt bin ich dadurch, dass ich Gott für das Geschenk meines Lebens danke und seiner göttlich-menschlichen Gegenwart in den kleinen und großen Augenblicken des Alltags Bedeutung verleihe. So wird Sinnerfahrung zum Geschenk und zur Aufgabe zugleich. Gottes Gegenwart ist Reichtum innerlich, wärmt das Herz von innen her.