Das Evangelische Wort

Sonntag, 06. 04. 2003,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

Pfarrer Lutz Lehmann (Klagenfurt)

 

Mir ist das Sehen und Hören fast vergangen in den letzten Tagen. Mir ist noch nie so deutlich geworden, dass ich den Bildern nicht trauen kann und dass die Informationen, die ich bekomme, im besten Fall einen kleinen Ausschnitt der Wahrheit zeigen. Trotz aller Bilder nicht zu wissen, was wirklich geschieht, alle Nachrichten nur mit Vorbehalt zu lesen - das macht die Hilflosigkeit noch größer, mit der ich vom Krieg höre. Die Versuchung ist groß, mich abzuwenden von dem, was ich nicht ändern kann, zu schweigen zu dem, wovon ich nur Bruchstücke weiß.

 

Warum ich dann trotzdem rede, jetzt, zu Ihnen? Einer der Gründe steckt für mich in einer Wundergeschichte aus dem Markusevangelium. Diese Geschichte, im 10. Kapitel, geht so:

Als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge die Stadt Jericho verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler: Bartimäus, der Sohn des Timäus. Als er hörte, dass Jesus vorbeikam, rief er laut: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Viele bedrohten ihn und wollten ihn zum Schweigen bringen. Aber er schrie nur noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!

 

Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Jesus fragte ihn: “Was soll ich für dich tun?“

Der Blinde antwortete: Mein Rabbi, ich möchte wieder sehen können! Da sagte Jesus zu ihm: Geh nur! Dein Vertrauen hat dir geholfen. In diesem Moment konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.

 

Ich muss an diese Geschichte denken, weil sie eine Botschaft in sich birgt, die über den Moment der wundersamen Heilung hinausgeht.

Eine Botschaft, die mich nicht zum Wegschauen von den Dingen führt, die ich schon nicht mehr mit ansehen mag, nicht zu einer neuen, selbstgewählten Blindheit, sondern zu einer neuen Perspektive: Wer sich, wie Bartimäus, nicht zum Schweigen bringen lässt, wer trotz Blindheit versucht, in die richtige Richtung zu gehen - wer darauf vertraut, die Dinge neu sehen zu können mit Jesu Hilfe, dem werden die Augen geöffnet.

 

Allerdings: die Augen zu öffnen ist mühsamer als sie zu verschließen. Wer sich den Bildern bewusst aussetzt, wird auch danach fragen müssen, was sie zeigen - und, was noch schwieriger ist: er wird auch danach fragen müssen, was der, der sie mir zeigt, bei mir mit den Bildern erreichen will.

 

Es sind schlimme Bilder, die wir dieser Tage sehen. Aber vielleicht helfen gerade sie dabei, zu erkennen, wie parteilich Bilder sein können und wie gelenkt Informationen. Vielleicht öffnen mir ja gerade die ausgewählten, eingefärbten Berichte von “eingebetteten“ Reportern die Augen dafür, dass ich immer wieder nur das zu hören und zu sehen bekomme, was für mich und meinesgleichen ausgewählt und eingefärbt worden ist. Ich habe wahrscheinlich zu lange Zeit den Bildern zu treuherzig geglaubt -und ich habe dadurch weniger gesehen als jetzt, wo mir die Bilder fragwürdig erscheinen.

 

Bartimäus hat sich entscheiden müssen in der biblischen Geschichte: ob er denen vertrauen sollte, die ihn dazu bringen wollten, sitzen zu bleiben und still zu sein, oder jenen, die sagten: Steh auf! Jesus ruft dich! Mach dich auf den Weg! Ich werde mich einer ähnlichen Entscheidung stellen müssen. An Bartimäus zu denken könnte heißen, dass statt wegschauen ein neues Hinsehen sinnvoll wird, und statt Resignation ein neues, lauteres Fragen danach, was hinter den Bildern steht und zwischen den Zeilen der Meldungen. Bartimäus ist, nachdem ihm Jesus die klare Sicht geschenkt hat, nicht wieder zurückgekehrt in sein altes Leben. Er ist Jesus nachgefolgt, hat neue Wege beschritten.

 

Ich werde in Zukunft kritischer sein - nicht nur gegenüber Kriegsberichten. Ich werde auch hier bei uns den bunten Bildern gegenüber misstrauischer sein und den schönen Worten. Ich werde danach fragen, wem es denn nützt, wenn wir still sind und sitzen bleiben und ob es nicht langsam an der Zeit ist nicht mehr den Mund zu halten und aufzustehen.