Das Evangelische Wort

Sonntag, 20. 07. 2003,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

Dr. Jutta Henner

 

Zwei junge Frauen lachen für einige Tage von den Titelseiten der Zeitungen. Ladan und Laleh Bijani, Siamesische Zwillinge, am Kopf zusammen gewachsen. Neunundzwanzig Jahre hindurch kann keine einen Schritt ohne die andere tun. Wer kann ihnen den größten Wunsch ihres Lebens verdenken: Voneinander getrennt werden! Endlich ein normales Leben führen! Nach fünfzehn Jahren erfolgloser Suche endlich die Hoffnung, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. 50 Stunden Operation, ein großes Ärzteteam und weltweite Aufmerksamkeit. Voneinander getrennt wurden sie jetzt in ihrer Heimat begraben. Die vermeintliche "Operation des Jahrhunderts" scheiterte "an akutem Kreislaufversagen".

 

Hinterher lässt sichs leicht urteilen: "Sie sind selbst schuld", "die Ärzte haben falsche Hoffnungen geweckt", "Die Ärzte hätten den Eingriff nicht machen dürfen", Denen ging es doch nur ums Geld."

Wäre das Experiment geglückt, wie wären dann die Reaktionen? Die Entwicklung der Medizin ist doch eine Erfolgsgeschichte: Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Fast alle Organe können verpflanzt werden. Komplizierte Eingriffe sind längst Routine geworden. Erwartungen und Hoffnungen sind ebenfalls gestiegen. Scheitern ist nicht vorgesehen. Der Tod gilt als völliges Versagen. Ladan und Laleh sind tot. Der Versuch, ihnen ein normales Leben zu ermöglichen, ist gescheitert.

 

Geblieben sind einmal mehr Fragen und Schuldzuweisungen. Was kann, was darf die Medizin tun? Was kann, was darf der Einzelne von Medizinern fordern? Wo gibt es Kriterien, die helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden? Ist es doch einer der Grundsätze, dass eine Behandlung dem Patienten zumindest nicht schaden darf. Es geht um folgenreiche Entscheidungen, die zumeist im persönlichen Ermessen liegen und oft rasch gefällt werden müssen.

 

Eine Patentantwort zu finden, ist unmöglich. Zu vielschichtig sind die Fragen: Was sind die Motive der Ärzte? Geht es wirklich in jedem Fall vor allem darum, zu helfen? Welche Rolle spielen Erfolg, Popularität und damit verbundene Verdienstmöglichkeiten? Werden die Hinweise auf Risiken und Gefahren ernst genommen? Werden falsche Erwartungen in die Halbgötter in Weiß gesetzt?

Christinnen und Christen suchen Orientierung in diesen Fragen, auch und besonders in der Bibel. Eindeutige Handlungsanweisungen für die konkreten Fälle finden sich hier leider nicht. Allenfalls Leitlinien lassen sich finden, innerhalb derer die persönlich zu verantwortende Gewissensentscheidung zu fällen ist.

 

Die Bibel, in ihrer Fülle und Vielfalt Wort Gottes, weiß um das Geheimnis des Lebens, des Lebens als gute Gabe Gottes. Und sie weiß um den Tod als Teil dieses Lebens, aufgehoben in Gottes Güte, nicht als Scheitern und Versagen ärztlicher Künste. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es im 90. Psalm. Die Hilfe für den Kranken und Notleidenden, ist eines der zentralen Anliegen der Bibel. Heilung in einem tieferen Sinn schenkt - so erfahren es die Menschen der Bibel - allerdings nur die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Wo falsche Erwartungen sich an Menschen richten, sind Enttäuschungen vorprogrammiert.

 

An den Grenzen des Lebens richtig zu entscheiden, abzuwägen und Verantwortung zu übernehmen, aber auch Entscheidungen zu beurteilen, bleibt eine große Herausforderung. Mir kommt der biblische Bericht über König Salomo in den Sinn, dessen Weisheit bei schwierigen Entscheidungen sprichwörtlich werden sollte. In einem Gebet bittet er Gott um ein „gehorsames Herz“, und darum, zu „verstehen, was gut und böse ist“. Die Entscheidungen sind in unserer Zeit komplex; Information ist unerlässlich. Die Gewissensentscheidung zwischen Gut und Böse ist eine Gratwanderung. In aller menschlichen Begrenztheit mag es Fehlentscheidungen geben. Die Antworten liegen nicht auf der Straße, sie wollen vielmehr in der Stille erspürt und dann im gesellschaftlichen Dialog verantwortet werden.