Das Evangelische Wort

Sonntag, 31. 08. 2003,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

von Pfarrerin Renate Moshammer (Agoritschach-Arnoldstein, Kärnten)

 

 

In ihrem Gedicht „Weltende“ schreibt Else Lasker–Schüler:

 

„Es ist ein Weinen in der Welt,

als ob der liebe Gott gestorben wär,

und der bleierne Schatten, der niederfällt,

lastet schwer.“

 

Diese Worte sind fast ein Kommentar zum aktuellen Weltgeschehen. Das heißt, man muss mit dem Wort „Gott“ noch etwas anfangen können, wenn man die Weltlage so beschreibt. Es muss einem zumindest das Fehlen von Gott schmerzlich auffallen. – Aber auch so gibt es genug, dass einem das Lachen vergeht.

 

„Es ist ein Weinen in der Welt …“ - Bilder von weinenden Menschen gehen durch die Medien. Terroropfer in Israel und im Irak, verzweifelte, hungrige Menschen in Liberia. Andere Bilder werden gar nicht mehr gezeigt. Zu wenig sensationell ist ein Schusswechsel in Afghanistan, zu alltäglich das Elend im Sudan, zu unspektakulär ist die Langeweile der Flüchtlinge in unserem Land. Da muss schon etwas passieren, dass man wieder hinschaut und die Bilder kurz unsere Abendunterhaltung stören.

 

„Es ist ein Weinen in der Welt …“ und Gott scheint gestorben zu sein. Oder weint er vielleicht auch? Der Evangelist Lukas hat uns das Bild des weinenden Jesus überliefert. Er schreibt:

„Als Jesus sich der Stadt (Jerusalem) näherte und sie vor sich liegen sah, weinte er und sagte: ‚Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Aber Gott hat dich blind dafür gemacht. Darum kommt jetzt über dich eine Zeit, da werden deine Feinde einen Wall rings um dich aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten einschließen. Sie werden dich und deine Bewohner völlig vernichten und keinen Stein auf dem anderen lassen. Denn du hast den Tag nicht erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte.’“

 

Jesus steht auf dem Ölberg vor der Stadt und weint über die Stadt, in der die Römer im Jahr 70 unserer Zeitrechnung wirklich keinen Stein mehr auf dem anderen gelassen haben. Er steht da und weint über die Stadt, in der bis heute nicht nur die Steine nicht zur Ruhe kommen.

  

„Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt!“

Fast 2000 Jahre nach diesem Stoßseufzer hat sich eigentlich nichts geändert. Es ist höchstens schlimmer geworden. Friedlosigkeit und Gottverlassenheit lassen sich nicht nur an einem Punkt lokalisieren. Jerusalem ist überall. Die ganze Welt weint. Der ganzen Welt gilt längst die Klage Jesu: „Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt!“ Der Sündenbock, den wir doch so gerne suchen, der ist nicht mehr nur bei den Juden oder nur bei den Palästinensern, nur bei den USA oder im Irak zu finden. Er ist auch bei uns nicht nur in den Reihen der Blauen oder Roten, der Schwarzen oder Grünen versteckt. Der Sündenbock spricht längst alle Sprachen – und spielt alle Farben. Aber ist das unsere Zukunft? Weinen – bis die Augen so verschwollen sind, dass wir nichts mehr sehen von dem Leid um uns?

 

Jesus scheint seine Tränen getrocknet zu haben. Jedenfalls erzählt Lukas, dass er sich aufmacht, in den Tempel geht, die Standeln umschmeißt, die Händler hinauswirft und an seinen eigentlichen Zweck erinnert: Ein Haus des Gebets soll das sein, ein Haus der Lehre und der Besinnung. Jesus baut durch sein Wort ein neues Haus auf. Auch dort, wo Häuser fallen. Auch dort, wo Steine in den Händen von Menschen zu Waffen werden. Jesus baut ein neues Haus und lädt Menschen ein, darin zu wohnen, weil Gott da wohnt. Und nur dort kann doch Friede werden, wo Menschen spüren, dass Gott bei ihnen Wohnung nimmt. Gott nimmt vor allem Wohnung bei denen, die vor den Trümmern ihres Lebens und ihrer Hoffnungen stehen. Gott nimmt Wohnung bei denen, die sich gottverlassen vorkommen, und bei denen, die Gott verlassen haben. Jesus lädt auch uns ein, immer noch, damit wir „erkennen, was uns Frieden bringt“ und für diesen Frieden eintreten in unserer Welt, die voller Weinen ist.