Das Evangelische WortSonntag, 07. 09. 2003, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
Pfr.
Dr. Gerold Lehner (Purkersdorf, NÖ) Stellen
sie sich vor, mit ihrer 14-jährigen Tochter, mit ihrem 14-jährigen
Sohn geschieht etwas Merkwürdiges: Vorher recht ausgeglichen,
erscheint sie oder er auf einmal recht abwesend. In der Schule
lassen die Leistungen nach. Zuhause wird nichts erzählt. Er oder
sie kapselt sich ein. Der vorher so gute Appetit wird weniger, die
Lieblingsspeise schmeckt
nicht mehr so recht. Auf Nachfragen kriegen sie nur mürrische
Antworten: "Is eh nix".
Sie
machen sich Sorgen: Ist das normal? Ist er oder sie krank? Ein
seltener Virus? Eine Depression?
Die Pubertät kann das wohl nicht sein? Oder doch? Sie sind
unsicher, wissen nicht was sie tun sollen. Zum Arzt gehen? Und dann
bekommen sie von dritter Seite eine Information: ihr Sohn, ihre
Tochter ist schwer, aber unglücklich verliebt. In
diesem Moment fällt ihnen ein Stein vom Herzen: Ihr Sohn, ihre
Tochter benimmt sich nicht
mehr völlig unbegreiflich, sondern die Benennung des Zustandes als
unglückliches Verliebtsein,
klärt alles auf. Alles wird auf einmal - auch wenn es ihm oder ihr
deswegen nicht
besser geht - beruhigend normal.
Die
Dichter haben das Gefühl beschrieben, sie haben es manchmal die
Liebeskrankheit genannt
- und so bekommt die Erfahrung, das Gefühl einen Namen - und ist
damit nicht mehr so Angst erregend. Wir wissen, wie wir dran sind.
Die Sprache hat uns geholfen, ein beunruhigendes
Erleben in den Griff zu bekommen.
Was
hier so banal klingt, das hat einen sehr ernsten Hintergrund. So
manche schlimme Krankheit
hatte einst keinen Namen und war damit nicht als Krankheit
anerkannt. Und die darunter
litten, die haben doppelt gelitten: denn, wenn etwas eine Krankheit
ist, dann ist es erlaubt, darunter zu leiden. Wenn es aber keine
Krankheit ist, dann ist man entweder ein Tachinierer, oder man soll
sich gefälligst zusammenreißen. Sprache schafft also in einem
bestimmten Sinne Wirklichkeit. Denn Sprache ist unser Werkzeug, die
Welt zu begreifen und zu verstehen. Durch sie entsteht in der Welt
ein Haus, das wir bewohnen können. Und
als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch
Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte.
Und
sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn,
dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge
beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine
Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu
ihm: Effata!,
das heißt: Tu dich auf! Und
sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste
sich, und er redete richtig. Markus
7,31-35 Jesus
war es enorm wichtig, dass die Menschen wirklich hinhören. Deshalb
redet er immer wieder
davon: wer Ohren hat zu hören, der höre! Und deshalb sind seine
Heilungen auch nicht
bloß die Wiederherstellung eines akustischen Vermögens. Da geht es
immer um mehr. Da geht es darum, eine neue Sprache zu hören, eine
neue Sprache zu lernen - und damit im Grunde eine neue Welt zu sehen
und zu bewohnen. Wenn
Jesus heilt, einem tauben Menschen die Fähigkeit schenkt zu hören,
dann doch nicht dafür, dass er nun ganz in das eintaucht, was
normalerweise um uns herum zu hören ist. Wenn er uns heilt, dann
doch deshalb, weil er will, dass wir neu hören lernen. Dass wir
hinter dem was uns die Welt in Fernsehen, Werbung, Politik
zuschreit, noch das ganz andere hören. Jene Stimme, die eine andere
Geschichte erzählt. Eine Geschichte von Menschen, von denen jeder
und jede geliebt ist, jeder und jede begabt und jeder und jede in
einer Verantwortung steht. Eine Geschichte von Menschen, deren Würde
die Liebe für einander ist, die Achtung vor allem Leben, der Dienst
und der Einsatz für die Gerechtigkeit. Dann
will er, dass wir eine neue Sprache lernen. Eine Sprache die nicht
den Zwängen der Wirtschaft
und des Nutzens unterworfen ist. Eine Sprache, die nicht in der
Wettbewerbsfähigkeit
ihre letzte Erfüllung sieht. Ich
bete darum, dass Jesus mich immer wieder auf die Seite nimmt, meine
Ohren und meinen Mund berührt und sagt: tu dich auf!
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