Das Evangelische Wort

Sonntag, 12. 10. 2003,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

Superintendent Werner Horn (Wien)

 

Ganz langsam fängt es an: dass Eltern Kinder werden. Über viele Jahre hat man ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Eltern, kommt gut miteinander zurecht oder auch weniger gut, und gleichzeitig fängt langsamer etwas an, sich zu verändern. Man kann es zuerst kaum in Worte fassen, aber dann, eines Tages, ist es ganz deutlich: Vater, Mutter - sie sind wirklich alt geworden. Und das frühere Verhältnis kehrt sich um: Aus Eltern werden Kinder.

 

Früher waren die Eltern als Autorität für die Kinder da. Und jetzt mit einem Mal durch die Hinfälligkeit und zunehmende Krankheit werden die Eltern diejenigen, die abhängig werden von den Kindern. Klassischerweise sind ja Kinder abhängig von Eltern. Und da dreht sich das Ganze um. Man muss sich um die Eltern kümmern wie um eigene Kinder.

 

Viele tun das und kümmern sich rührend um die Eltern, auch wenn das nicht immer einfach ist. Über viele Jahre übernehmen sie Verantwortung für die Eltern: wie sie sich ernähren, für den Arztbesuch, die Hygiene, die Wäsche und viele Dinge mehr. Sie räumen damit ihren Eltern den Platz in ihrem Leben ein, der ihnen jetzt zukommt. Und sie tun damit, bewusst oder vielleicht auch nur unbewusst, was die Bibel in ein Gebot fasst: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“

 

Doch was geschieht, wenn die Sorge zu schwer wird, wenn es über die eigenen Kräfte geht? Was, wenn die Familie darunter leidet oder wenn der Ehepartner sagt: „Ich mach’ das nicht mehr lange mit“? Dann steht eine schwierige Entscheidung an, die Gewissensentscheidung, den alten Menschen doch in ein Heim zu bringen. Vater oder Mutter einem Heim anvertrauen - schön wäre es, wenn alle miteinander sprechen könnten, wenn alle damit einverstanden sein könnten, diesen Weg zu gehen. Einfach ist das sicher für beide Seiten nicht.

 

Und doch kann auch dieser Weg eine Form sein, das Gebot zu erfüllen und Vater und Mutter zu ehren. Geht es dem Gebot doch darum, die Eltern zu achten, ihnen Geborgenheit zu geben und sie nicht verkümmern zu lassen. Das freilich kann nicht nur dem Pflegepersonal überlassen werden. Leider wird mit der Überstellung in ein Heim in nicht wenigen Fällen der Kontakt zwischen Kind und Vater oder Mutter immer schwächer. Aber der Kontakt lässt sich ja auch im Heim aufrecht erhalten und die Beziehung kann man als Angehöriger weiterhin pflegen.

 

Manche Seniorenheime bemühen sich daher, die Angehörigen in das Haus einzubinden. Man kann hier an sämtlichen Veranstaltungen auch als Angehöriger teilnehmen. Der Angehörige kann jederzeit hier sein, nur die pflegerischen Maßnahmen werden vom Heim getragen. Auch wenn ein Teil der Verantwortung und ein Teil der Arbeit vom Heim übernommen wird, spielt der Angehörige im Leben der Mutter oder des Vaters immer noch eine große Rolle. Das bedeutet, dass auch die Pflegenden in ihrer Arbeit nicht überfordert werden.

 

Zeit mitbringen und Ohren haben für das, was der alte Mensch vielleicht nicht mehr sagen kann, Beziehungen aufrecht erhalten oder herstellen, indem man ihn holt oder mit Geschwistern und anderen Verwandten zusammenbringt - wo Kinder das tun, helfen sie, dass das Leben lebenswert bleibt, auch im Heim. So kann geschehen, worauf es dem 4. Gebot ankommt: den Vertrag, der die eigene Kindheit behütet hat, nicht an den Hilflosen brechen, sondern die Verantwortung wahrnehmen, die wir haben, wenn Eltern Kinder werden.