Das Evangelische Wort

Sonntag, 16. 11. 2003,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

Mag. Barbara Knittel, Vlbg.

 

 

„Ich vertraue auf Gott und fürchte mich nicht, denn meine Füße hat er bewahrt vor dem Fall“ Ps.56/10,14

 

Was in unserer österreichischen Politik zur Zeit unter dem Stichwort „Reform“ läuft – wie die Pensionsreform, die Gesundheitsreform, die ÖBB-Reform -  das ist nicht nur eine Umformung von Strukturen, sondern rührt noch an anderem. Politische Strukturen, die jahrzehntelang getragen haben, sind brüchig geworden. Das oberflächliche Hauptargument dafür ist das mangelnde Geld aber die Zusammenhänge sind bestimmt vielschichtiger. Auch wenn ich manches davon nicht erfassen kann, so merke ich eines sehr deutlich. Es sind damit ganz zentrale Lebensbereiche berührt. Unsere Mobilität, unsere Gesundheit und Krankheit, und das Alter. All das hat mit dem Lebensnerv zu tun. Und nun tritt da zutage, dass die staatliche Mitverantwortung für so vitale Lebensbereiche brüchig wird, und das trifft vor allem Menschen, die selbst durch Krankheit und Alter in ihrem Leben brüchiger werden, oder, die in ihrer Mobilität von der Bahn abhängen.

In meinem zweiten Beruf als Psychotherapeutin merke ich, wie davon betroffene Menschen unruhig und angstvoller werden. Und bei mir selbst merke ich das auch. Aber ich nehme jetzt diese meine Unruhe, um genauer hinzusehen, was auf einer tieferen Ebene passiert. Mein Grundvertrauen ins Leben ist damit berührt, weil eine Sicherheit, die so selbstverständlich war, nicht mehr hält. Bei mir ist dieses Grundvertrauen auch mit meiner spirituellen Verwurzelung verbunden, oder anders gesagt, mit meinem Gottesvertrauen. Ich kenne das aus früheren Lebenskrisen, dass Erschütterungen bis dorthin reichen können, und Fragen auftauchen: Wie ist das mit der Anwesenheit oder auch Abwesenheit Gottes mitten in so einer Unsicherheit?

 

Dazu fällt mir ein altes jüdisches Gottesbild ein, das der Gottheit, die auf der Erde einwohnt, auf hebräisch, der Schechina. In weiblicher Gestalt stellte man sie sich vor. Sie ist mit dem jüdischen Volk schon ins Exil nach Babylon gegangen. Exil heißt im Grunde genommen alles, was abgeschnitten ist von seinem Ursprung, was sich nicht eingebunden weiß in das Umfassende. Es meint die Einsamkeit des Menschen vor dem Nichts. Die Schechina ist ein Bild  für die Seite Gottes, die in diesem geschilderten Exil einwohnt, die also im Brüchigen des Lebens zu finden ist. „Vielleicht ist sie das unsichtbare Erdreich, daraus die glühenden Wurzeln der Sterne treiben“ – so spricht in mystischer Weise die Dichterin Nelly Sachs von der Schechina.

 

In einer alten Geschichte wird von Henoch, einem der Urväter in der Bibel erzählt, er sei Flickschuster gewesen, und habe mit jedem Stich seiner Ahle, der das Oberleder an die Sohle nähte, den heiligen Geist mit der Schechina verbunden. Ein Bild für eine Erfahrung, nämlich von Moment zu Moment, mitten im Alltäglichen, auch wenn es noch so brüchig ist, eine Verbundenheit zu Gott finden.

Mir geht es jetzt nicht darum, in einer politisch unruhigen Zeit mit religiösen Argumenten zu besänftigen. Ich weiß nur, gerade dann, wenn das Grundvertrauen ins Leben angegriffen ist oder anders, der Boden unter den Füßen zu schwanken beginnt, ist es gut, sich zu erinnern, dass Gotteserfahrung auch dann möglich ist. So spiegelt es ja ein altes Gebet wider, wo es heißt:

„Ich vertraue auf Gott und fürchte mich nicht, denn meine Füße hat er bewahrt vor dem Fall“