Das Evangelische Wort

Sonntag, 23. 11. 2003,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

Oberkirchenrätin Dr. Hannelore Reiner (Wien)

 

Mt. 5, 4 „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“

 

Der Zeitpunkt war gut gewählt: Ein typischer Novembertag, nebelverhangen, feuchte Blätter auf der Straße. In der Kapelle des Krankenhauses waren Kerzen aufgestellt. Ich konnte sie beim raschen Hinschauen gar nicht abzählen. 20 oder 30 oder auch mehr. Und neben jeder Kerze lag eine Rose. Kerze und Rose, jeweils die Erinnerung an ein Menschenleben.

 

Die Hospizbewegung des Spitals hatte zu einem Gedenken eingeladen. Mit sehr viel Takt und Einfühlungsvermögen war diese Erinnerungsstunde vorbereitet und durchgeführt worden. Erinnern war der eine Schwerpunkt dieser Stunde. „Erinnerung sind die Rosen im Winter“, sagt ein Sprichwort. Das heißt für mich, die Erinnerung ist ein Schatz in unserem Gedächtnis, der, wenn alles andere nicht mehr möglich ist, hervorgeholt werden kann. Im Erzählen wird alles wieder lebendig, ein Stück weit zumindest. Dies geschieht auf so wundersame Weise, als wenn es Rosen zur kalten Jahreszeit gäbe.

 

Die nun schon mehr als 30 Jahre alte Hospizbewegung wurde von einer englischen Krankenschwester gegründet. Ihr besonderes Anliegen war die Begleitung und Pflege von schwerstkranken Menschen. (In den Jahren seither sind in fast allen europäischen Ländern Hospizstationen entstanden, in denen, oft an Krankenhäuser angeschlossen, Menschen ihre letzte Lebenszeit verbringen können, umgeben von Angehörigen und Pflegepersonal mit sehr viel Aufmerksamkeit und fachlicher Kompetenz.) Gute fachliche und menschliche Begleitung von schwerkranken Menschen bis zum Tod, das ist – sehr vereinfacht – bis heute die Hauptaufgabe der Hospizbewegung. In den letzten Jahren sind mehr und mehr auch die trauernden Angehörigen in den Blick genommen worden, die mit dem Tod des geliebten Menschen fertig werden müssen und oft ungetröstet zurückbleiben.

 

„Glückselig“ nennt Jesus in der Bergpredigt die Leidtragenden, weil, so setzt er fort, „sie getröstet werden.“ Hier werden also nicht Leid und Trauer verherrlicht, sondern es wird auf die große Bedeutung des Einander-Tröstens hingewiesen. Leid und Trauer öffnen Menschen und machen empfänglich für ein tröstendes Wort oder eine liebevolle, mitfühlende Geste. Trauernde Menschen haben allerdings auch ein sehr feines Gespür für das, was echt ist.

 

Die Gedenkfeier im Krankenhaus hatte einen tröstlichen zweiten Teil, der einen Blick nach vorne, in die Zukunft, eröffnet hat. Viele, viele Besuche und Gespräche davor und danach waren und sind nötig, um dieses Nach-Vorne-Schauen zu ermöglichen und getröstet weiter gehen zu können. Novembertage und Spaziergänge durch fallendes Laub eignen sich gut dazu. Die Rosen der Erinnerung öffnen sich wie von selbst durch das Trösten und Getröstet-Werden und beginnen zu blühen.