Das Evangelische WortSonntag, 14. 12. 2003, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
Pfarrer
Wolfgang Olschbaur, Bregenz
Herr,
nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn
meine Augen haben deinen Heiland gesehen.
(Lukas 2, 29 – 31) Auf
diesen Augenblick hat der greise Simeon ein Leben lang gewartet. Das
Jesus-Kind ansehen, es in die Arme nehmen dürfen, es liebkosen und
in ihm die Erfüllung allen Wartens erkennen. Simeon ist eine
wichtige Gestalt in der biblischen Weihnachtsgeschichte. Heute
dreht sich alles um das Kind. Eine ganze Konsumwelt stellt das Kind
in den Mittelpunkt ihrer Absichten. Kinder sind "in".
Eltern und Großeltern sehen in glücklichen Kinderaugen die Erfüllung
ihrer eigenen - nicht gelebten - Sehnsüchte. Alles für das Kind! Vor
nicht allzu langer Zeit war es anders. Kinder galten als unfertig,
als noch nicht ganz Mensch, als im Wartestand befindlich. Kinder
abzubilden machte Probleme. Die Maler von Königskindern gingen von
späteren Erwachsenen aus. Maria Theresia als Kind sieht aus wie
eine Kaiserin im Reifrock, auf halbe Größe zusammengeschrumpft.
Man wusste nichts anzufangen mit dem Kindsein. Es war eher eine
peinliche Existenz, keine eigene Lebensphase. Peter
Pan aus der Kinderbuchwelt späterer Jahre ist ein eigenartiger Bub
aus dem "Nimmerland", er lebt zeit- und raumlos, ohne
Erinnerung, immer in der Kinderwelt, in der alles jeden Tag von
Neuem beginnt. Er ist auf der Suche nach einem Mädchen, das für
ihn die Rolle der Mutter einnimmt. Das ewige Kind! Versteht nichts
vom erwachsen Werden. Anders
Pippi Langstrumpf, mit den Sommersprossen und den abstehenden Zöpfen.
Sie stellt den lästigen Kinderalltag auf den Kopf mit Schule,
Eltern und Polizisten. Sie kommt besser mit dem Leben klar als die
Erwachsenen. In dem sie alles verkehrt macht, zeigt sie ihnen, was
sie bereits verloren haben.
Harry
Potter hingegen weiß bis zu seinem 11. Geburtstag nicht, was in ihm
steckt. Ein Zauberer! Als Baby hat er bereits - ohne es selbst zu
ahnen - den Teufel besiegt und steht seither für die Überwindung
des Bösen. Das rettende Kind! Kinder,
die mehr können und leichter leben als die ernsten Erwachsenen
stehen hinter der Philosophie der Kinderliteratur seit zwei
Jahrhunderten. "Wo Kinder sind, da ist ein goldnes
Zeitalter", sagte Novalis. Wie
ist das mit dem Kind im Stall von Bethlehem? Es kommt in die Welt für
alle, für groß und klein. Man kann seinen weiteren Weg verfolgen
und begleiten, bis hin ans Kreuz, in den Tod und darüber hinaus.
Mit ihm kommt Gott auf die Erde und mischt sich ein in menschliche
Verhältnisse. Kinder und Weihnachten, dreifach. Ein Kind wird verehrt und angebetet. Eigene Kinder stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die eigene Kindheit steigt aus der Erinnerung. Weihnachten ist ein Kinderfest, aber es ist nicht nur ein Fest für Kinder! Zu
Weihnachten dürfen alle wieder zu Kindern werden, aber nicht
kindisch! Die Welt der Erwachsenen wird aus den Angeln gehoben. Sie
werden Empfangende und nicht nur Gebende, Machende, Organisierende.
Sie dürfen wieder "unmündig" sein und sich etwas sagen
lassen, etwas Neues, Überraschendes, noch nie da Gewesenes. Alle,
groß und klein, Eltern und Kinder, versammeln sich vor einem Kind.
Und die Kinder erleben heilsam und befreiend, dass ihre Mütter und
Väter doch nicht die letzte, die unbedingte Instanz in dieser Welt
sind. Gemeinsam mit ihnen - mit allen - treten sie vor eine unverfügbare
Macht, vor das göttliche Kind, und beten es an.
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