Das Evangelische WortSonntag, 23. 05. 2004, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
Pfr. Martin Müller, Waiern/Feldkirchen, Kärnten
"Orientierung(slos)"
„Selbst
ein Storch weiß, wann er zurückkehren muss, Taube, Schwalbe und
Drossel kommen zur rechten Zeit wieder. Nur mein Volk weiß nicht,
welche Ordnungen ich ihm gegeben habe.“ (Jeremia 8,7) Frühling
ist schön. Wenn
sich das graue, schmutzige Braun der Wiesen und Felder wieder in
sattes Grün verwandelt. Wenn sich durch die letzten Schneeflecken
schon die Frühlingsknotenblumen, Primeln und Maiglöckchen
schieben. Wenn die Natur wieder aufatmet, die Insekten ausfliegen
und die Luft tanzt beim Gesang der wieder heimgekehrten Singvögel. Dann
kann sich wohl kaum einer des hoffnungsfrohen Gefühls entziehen,
das die Schöpfung mit ihrer Fröhlichkeit verbreitet. Frühling
ist schön. Und
eines der größten Geheimnisse dieser Zeit ist für mich, wenn die
Singvögel nach langer Pause wieder aus ihrem Winterquartier zurückkehren. Oft
haben sie mehrere tausend Kilometer zurückgekehrt, haben Meere überquert
und Wind und Wetter überwunden ohne Radar und Navigationssysteme.
Oft haben sie die Strecke ohne Unterbrechung zurückgelegt und ihre
Nahrungsaufnahme exakt so gewählt, dass sie nicht zu wenig hatten
an Energiebedarf für die weite Strecke, und auch nicht zuviel, um
durch Körpergewicht nicht zusätzlich Energie zu verbrauchen. Die
Singvögel sind wieder da – und für mich ist das eines der ganz
großen Geheimnisse der Schöpfung. „Selbst ein Storch weiß, wann er zurückkehren muss, Taube, Schwalbe und Drossel kommen zur rechten Zeit wieder. Nur mein Volk weiß nicht, welche Ordnungen ich ihm gegeben habe.“ (Jeremia 8,7) Beim
Wort des Propheten Jeremia schwingt Wehmut mit, wenn er dieses
Geheimnis der Natur betrachtet und feststellt: die Tiere achten die
Ordnungen Gottes, aber die Menschen haben die Ordnungen Gottes
vergessen. Die
Tiere orientieren sich selbst in Dunkelheit und endloser Weite, sie
finden ans Ziel, aber die Menschen irren ab vom rechten Weg und
verlieren das Gefühl für das, was Recht und Unrecht ist. Wir
alle sind in den vergangenen Wochen schockiert und betroffen von
dem, was wir über Fernsehen und Medien tagtäglich ins Haus
geliefert bekommen: Folterungen im Irak, menschliche Demütigung und
Gewalt, Bombenattentate auf Züge und Autos, Hinrichtungen vom Video
direkt mitgefilmt, Staatsterror durch gezielte Tötungen in Palästina
ohne Gerichtsverfahren. Und letzthin die Äußerung eines
Geschichtsprofessors in Deutschland, dass zur Eindämmung von
Terroraktionen Folterungen durchaus legitim sein können.
Zivilisierte westliche Welt? Professorentitel schützen offenbar vor
Torheit nicht, kann man da nur sagen. Oder mit Jeremia: „Selbst ein Storch weiß, wann er zurückkehren muss, Taube, Schwalbe und Drossel kommen zur rechten Zeit wieder. Nur mein Volk weiß nicht, welche Ordnungen ich ihm gegeben habe.“ (Jeremia 8,7) Als
mir meine Kinder letzthin eine DVD-CD ihres heiß verehrten
Musik-Idols zeigen, das Videoclip das die Musik begleitet, traue ich
meinen Augen nicht: was da ein kleiner Bub durchs Schlüsselloch zu
sehen bekommt, hat man vor 20 Jahren in einschlägigen
Verkaufslokalen unter dem Ladentisch gehandelt. Sind
sich Regisseure oder Musik-Produzenten eigentlich bewusst, womit sie
junge Menschen prägen und beeinflussen? Ich
bin kein klagefreudiger Lamentierer. Deshalb will ich nicht stehen
bleiben beim Schock über die vergessenen Ordnungen Gottes. Sondern
ich will staunen über die Möglichkeiten, die Gott uns auch heute
schenkt, uns im Leben zurechtzufinden und für eine lebenswerte Welt
einzutreten: Die
Wunder der Schöpfung, Gottes Gebote als hilfreiche Wegweisung, das
Evangelium als mutmachendes Wort des Lebens und den Gesang der Vögel,
die immer wiederkehren.
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