Das Evangelische WortSonntag, 30. 05. 2004, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
Bischof
Herwig Sturm (Wien) Das
heutige Fest hat kein sichtbares Zeichen. Keinen Christbaum, kein
Osterei. Pfingsten
ist das Fest des Geistes. Dieser
Geist ist nicht sichtbar, aber er wirkt. Er
wirkt als Dolmetscher, so dass Menschen aus verschiedenen Völkern
und Sprachen einander verstehen. Er baut Brücken über Klüfte und
Gräben. Er bläht die Segel der Hoffnung und entfacht das Feuer der
Liebe zum Glühen. In der Pfingstgeschichte der Bibel wird er als
Sturm und Feuerflammen erlebt. Ich
hatte in diesem Jahr schon ein Pfingstfest. Am 1. Mai haben unsere
Superintendenten und die Kirchenleitung die Grenze nach Ungarn überschritten
und uns dort mit Bischöfen und Gemeindegliedern zu einem
Dankgottesdienst und zu einer Begegnung getroffen. Wir
waren nicht die Einzigen. Aus
dem ehemaligen Todesstreifen des Eisernen Vorhangs entlang der Süd-
und Ostgrenze unseres Landes ist eine Perlenkette von Festen
geworden; Feste der Begegnung, der Überschreitung von Grenzen, der
Freude an den Nachbarn. Nun
geht es um die Seele für dieses neue Europa. Dazu erbitten wir
Gottes Geist. Wir sind dankbar, dass nun das Recht gilt und nicht
mehr Gewalt; wir bitten um Solidarität anstelle von
Gruppenegoismen, um eine Wirtschaft, die nicht nur den Profit im
Auge hat, sondern dem Leben dient. Wir bitten um Menschenrecht und
Menschenwürde und nicht zuletzt bitten wir darum, dass dieses neue
große Europa das Wunder der Grenzöffnung nicht vergisst und offen
bleibt für Menschen, die uns brauchen, als Partner oder auch als
neue Heimat. Der
Heilige Geist macht Mut zu ungewöhnlichen Dingen. Vor
einigen Tagen waren Vertreter einer Pfingstgemeinde bei mir. Diese
Gemeinde hat sich gebildet, weil eine Frau plötzlich in Zungen
geredet hat und seither überzeugt ist, dass sie und ihre Gemeinde
vom Heiligen Geist geleitet wird. Mit sechs Mitgliedern haben sie
vor drei Jahren begonnen, heute sind es 300. Es handelt sich vor
allem um farbige Menschen, die sich wieder um Farbige kümmern, die
in der Prostitution, bei Drogen oder in der Obdachlosigkeit gelandet
sind. Für die Betreuung dieser Menschen brauchen sie ein größeres
Lokal. Nun
haben sie eine alte Fabrik gefunden, die möchten sie kaufen um 1,5
Mio. €. Verrückt, oder mutig, oder einfach: Wunder sind nicht
ausgeschlossen, wo mit Gott gerechnet wird. Unsere
Synode und Generalsynode hat das kommende Jahr zum „Jahr der
Spiritualität“ ernannt. Wir möchten damit ein tiefes Bedürfnis
der Menschen aufgreifen: Inmitten der Beschleunigung aller Abläufe
das Bedürfnis nach einem ruhigen Pol. Inmitten einer Fülle von
Nachrichten, das Bedürfnis nach Klarheit und Wahrheit. Inmitten
eines Marktes von religiösen Angeboten, das Bedürfnis nach
Gottesbegegnung aus erster Hand. Wir
suchen nach Wegen, dass unsere Kirche diesen Geist der Freiheit und
der Hingabe atmet. Wir suchen nach Formen, in denen wir als Menschen
des Alltags geistesgegenwärtig am Fest der Versöhnung und
Befreiung teilnehmen. Täglich
und vor allem heute bitten wir um das Wunder: „Komm, heiliger
Geist!“
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