Das Evangelische Wort

Sonntag, 11. 07. 2004,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

von Pfr. Wolfgang Olschbaur, Bregenz

 

Das Land vor dir sollst du sehen, aber du sollst nicht hineinkommen.

5. Mose 32, 52   i. A.

 

Da ist jemand an eine Grenze gestoßen, an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit, seiner Gesundheit, seines Lebens. Da hat einer sein Amt ausgelotet und hat sich verausgabt, da sind die Ärzte an die Grenze ihrer Kunst geraten.

 

Der Bundespräsident ist tot. Knapp vor erreichen des Ruhestandes ist er gestorben, zwei Tage vor der Amtsübergabe an den neuen.

Er war gerade dabei, Bilanz zu ziehen über seine Tätigkeit, hat sich vorbereitet auf den Abschied, hat geplant für die Zeit danach.

Er selbst wollte mit aller Kraft – und gegen seine körperliche Verfassung – noch diese Schwelle überschreiten. Kurz davor hat sein Herz ausgesetzt.

So knapp vor dem Ziel.

 

Man war betroffen, erschüttert. Von persönlicher Tragik war die Rede.

Sein Tod schien wie ein Zwischenfall, ein Makel für das Zeremoniell.

Das Protokoll war gestört. Keine feierliche Übergabe, keine Festivität.

Die Reden zu seiner Verabschiedung mussten umgeschrieben werden.

Jetzt waren es Nachrufe. Ein starker Präsident sei er gewesen, als  Diplomat ein geschickter Vertreter seines Landes nach außen, ein Patriot, ein Mensch, der Einblick gab in seine Gefühle mit Lachen und mit steinerner Miene, eine Person öffentlichen Interesses, in deren Privatleben gewildert wurde, ein Verletzlicher.

Jetzt kann er es nicht mehr hören. Was nützt einem die Ehre, wenn sie zu spät kommt? Sogar die, die ihn beschimpft haben, finden jetzt Worte der Hochachtung. Wenn man erst tot ist, dann ist alles gut!

 

Was wäre die Alternative gewesen? Feierlich verabschiedet werden, in den verdienten Ruhestand treten, - und dann mit seiner Krankheit kämpfen, zum eigenen Denkmal werden und in Vergessenheit geraten.

 

Ist nicht das, was wie ein Symbol persönlicher Tragik aussieht, in Wahrheit Ausdruck eines Glücks?

So knapp vor dem Ziel – und hat es doch nicht erreicht, sagen die einen.

Aber was ist schon das Ziel? Vielleicht war es die Gnade des richtigen Zeitpunktes. Es ist ihm jedenfalls erspart geblieben, in einen Zustand zu geraten, in dem er sich nicht mehr mit voller Kraft und Leidenschaft verausgaben hätte können für sein Amt. Auch Abschiedsreden sind ihm erspart geblieben.

 

Thomas Klestil soll guter Dinge gewesen sein in den letzten Tagen seines Lebens, zuversichtlich, wenn auch gezeichnet. Er ist in einem glücklichen Moment gestorben, für andere im falschen Augenblick. Sein Schulfreund Joe Zawinul hat gesagt: "Er hat ein wunderschönes Leben gehabt." Vielleicht ist das übertrieben. Aber es zählt mehr als alle Nach-Rede zwischen Lob und Heuchelei.

Das Ziel nicht erreicht? Da gibt es einen Menschen der Bibel. Er hat scheinbar auch das Ziel nicht erreicht. Mose. Der alte Mann mit schwerem Schicksal und großer Sehnsucht hat sein Volk aus der Gefangenschaft durch die Wüste bis an die Grenze des verheißenen Landes geführt. Dort blieb er zurück. Mit eignen Füssen durfte er es nicht betreten, der Tod hat ihn ereilt.

Aber mit seinen Augen hat er es noch sehen dürfen, das gelobte Land.

Er hat hinüber geblickt. Und das genügt, für ihn.

 

Vielleicht ist der Wunsch und der Wille, ein Ziel zu erreichen, manchmal noch wichtiger, als es selbst zu betreten.

 

Den Jordan sollst du nicht überschreiten.

Der Herr, dein Gott, wird selber vor dir hergehen, er wird die Hand nicht abtun und dich nicht verlassen.     

5. Mose 31, 2.3.6  i.A.