Das Evangelische Wort

Sonntag, 12. 09. 2004,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

Pfarrer Peter Pröglhöf (Salzburg)

 

12. September 1833.

In Hamburg gründet Johann Hinrich Wichern das so genannte Rauhe Haus. Kinder aus sozial verwahrlosten Verhältnissen bekommen ein Zuhause. In familienähnlichen Strukturen beginnen sie ein neues Leben, sie bekommen sogar neue Namen. Kinder, die nur den Kreislauf von Not und Gewalt gelernt hatten, erfahren, dass sie wertvoll sind. Wichern nimmt sich der Ausgegrenzten an. Sie lernen lesen und schreiben, und er sagt ihnen dass Gott sie liebt. Wichern hat den Mut, Grenzen zu überschreiten - das ist der Mut der Liebe. Und so wird er zum Begründer der Inneren Mission, der Sozialarbeit der Evangelischen Kirche, die heute unter dem Namen Diakonie ein Begriff ist.

 

Vor ein paar Tagen habe ich ein neues Projekt der Diakonie kennen gelernt: das Diakoniezentrum im Schloss Harbach in Klagenfurt. Da ist wirklich etwas Erstaunliches passiert. Ein katholischer Orden, die Kongregation Unserer Frau von der Liebe des Guten Hirten, hatte dort ein Mädchenheim. Doch der Orden musste sich von etlichen seiner Einrichtungen trennen, weil er immer kleiner wurde. Die Idee, dass die Evangelische Diakonie Schloss Harbach weiterführen könnte, hatte wohl zuerst niemand so richtig ernst genommen. Doch dann schenkte der Rektor der Evangelischen Stiftung der Ordensoberin eine Biografie der Gräfin de La Tour, der Gründerin der diakonischen Einrichtungen im Kärntner Treffen. Als die Oberin das gelesen hatte, entschied der Orden, dass er dem Diakoniezentrum Klagenfurt ein unsagbar günstiges Verkaufsangebot macht. Und das mit der Begründung, dass es zwischen der Gründerin des Ordens, Schwester Euphrasia, und der Gründerin der Evangelischen Stiftung in Treffen, der Gräfin de La Tour, eine Art Seelenverwandtschaft geben müsse. Die Schwestern waren froh, dass ihre Einrichtungen von jemandem übernommen wurden, der sie in ihrem Geist weiterführt. Und so füllt sich Schloss Harbach nach und nach mit neuem Leben. Es gibt betreute Wohngemeinschaften für Mädchen mit familiären Problemen, Verhaltensproblemen, Lern- und Leistungsstörungen, Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen. Eine Sondererziehungsschule stärkt Kinder in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung, und ein Alten- und Pflegeheim steht kurz vor der Fertigstellung. Dass ein katholischer Orden so viel Vertrauen zu einer Einrichtung der evangelischen Diakonie hatte, bewies seinen Mut, Grenzen zu überschreiten - das ist der Mut der Liebe.

 

Am vergangenen Mittwoch hat unser Bundespräsident Einrichtungen der Caritas, der Diakonie und der Volkshilfe besucht. Meiner Meinung nach war das nicht nur die Einlösung eines Wahlversprechens, sondern der sichtbare Ausdruck dafür, dass der Mut, Grenzen zu überschreiten, auch im Bereich des Staates nötig ist. Heinz Fischer hat sich nicht nur mit den Vertretern und Vertreterinnen der Hilfsorganisationen zusammengesetzt. Sondern er ist den Menschen begegnet, die Hilfe brauchen. Solche Begegnungen sind wichtig, damit der Mut der Liebe nicht nur auf die Hilfsbereitschaft einzelner Menschen beschränkt bleibt, sondern zu einem Prinzip des politischen Handelns wird.

 

Der Mut, Grenzen zu überschreiten - das ist der Mut der Liebe. Nur mit diesem Mut lassen sich Feinbilder überwinden und nur mit diesem Mut gelingt der Ausbruch aus dem Kreislauf von Not und Gewalt. Das galt am 12. September 1833, und das gilt auch heute, drei Jahre und einen Tag nach dem 11. September 2001.