Das Evangelische WortSonntag, 03. 10. 2004, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von Pfarrer Roland Ritter-Werneck, Leiter der
Evangelischen Akademie Wien Als
kleines Kind habe ich in meiner Familie viele Geschichten aus der
Kriegs- und Nachkriegszeit gehört. Die Russen waren immer die Bösen
in diesen Geschichten, die russischen Soldaten machten mir noch
Angst, obwohl sie längst nicht mehr in Österreich waren. Später
in der Schule und in meiner Studienzeit wurde die damalige
Sowjetunion oft als ideologischer und politischer Hauptfeind
dargestellt, ein amerikanischer Präsident bezeichnete sie damals
sogar als das „Reich
des Bösen“. Vor kurzem war ich das erste Mal selbst in Russland
bei einer internationalen christlichen Konferenz. In den Tagen davor
geschah das schreckliche Massaker in der Schule von Beslan. Als ich
am Flughafen in Moskau landete, bewegten mich sehr gemischte Gefühle
und viele Fragen. Wie werden die Menschen in diesem riesigen Land
auf die Erschütterung der Nachrichten reagieren? Wie werden sie mit
ihren Ängsten umgehen? Wer wird von den Politikern für das Böse
verantwortlich gemacht werden? In den Gesprächen und Begegnungen erhielt ich den
Eindruck: dieses Land ist in einer Situation des Übergangs, die
viele verunsichert. Was früher unverrückbar galt, ist heute in
Frage gestellt. Viele erleben die Veränderungen wie einen Sturm,
der alles durcheinander wirbelt. Die Vorstellungen von dem, was
richtig und falsch ist, gehen oft weit auseinander. Traditionen des
alten Systems treffen auf modernste Technologien des 21.
Jahrhunderts. Mit österreichischen Augen gesehen ist Russland in
manchen Dingen eine fremde Welt. Der Terrorüberfall von Beslan hat
gezeigt, dass aber eine wichtige Frage für die Zukunft Russland mit
dem Rest der Welt verbindet: Wie können Menschen unterschiedlicher
Herkunft und unterschiedlichen Glaubens miteinander in Frieden
zusammen leben? Wenn die Angst vor dem Bösen unser ganzes Denken,
Reden und Handeln bestimmt, wird die Gewalt immer mehr zunehmen und
die Terroristen dieser Welt – egal woher sie kommen – haben ihr
Ziel erreicht. Bei der Konferenz in Moskau haben Christen und
Christinnen aus ganz Europa über die Zukunft Europas und Russlands
diskutiert. Am letzten Abend waren wir eingeladen, auf einem Schiff
eine Rundfahrt auf der Moskwa zu machen. Wir fuhren rund um das
Zentrum der Stadt, den Roten Platz, den Kreml, dort wo seit
Jahrhunderten die Mächtigen dieses riesige Land regieren. Auf dem
Schiff fiel mir die Geschichte aus dem Neuen Testament ein, als
Jesus mit seinen Jüngern auf einem Boot am See Genezareth unterwegs
ist. Plötzlich bedroht ein Sturm das Boot. Die Jünger werden ängstlich
und nervös, Jesus aber schläft seelenruhig. Als die Jünger ihn
wecken, schafft er es, den Sturm durch Worte zu beruhigen und fragt
die Jünger: „Warum habt ihr solche Angst? Habt Ihr noch keinen
Glauben?“ Wir alle leben in stürmischen Zeiten der Veränderung,
in Österreich, in Europa, in Russland. Gut und Böse lassen sich
oft nicht so leicht unterscheiden, wie wir das möchten. Alte
Ordnungen, bewährte Umgangsformen und Weltanschauungen ändern sich
rasch. Manche Menschen glauben, dass ihnen die Religionen die
einfachen Antworten geben können, dass ihnen wenigstens hier jemand
eindeutig sagt, wer die Guten und wer die Bösen sind. Der Glaube, von dem Jesus spricht, liefert uns keine
fertigen Patentrezepte für alle diese Fragen. Er sagt uns nicht:
die Anderen oder die Ungläubigen sind böse und müssen vernichtet
werden. Aber dieser Glaube kann gerade in stürmischen Zeiten das
Vertrauen zueinander fördern und die Angst voreinander nehmen, vor
dem ehemaligen Feind, vor dem, der anders glaubt und anders ist.
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