Das Evangelische WortSonntag, 10. 10. 2004, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von
Pfarrer Dr. Christoph Weist Am Mittwoch war es klar: Der Bericht der EU-Kommission darüber, ob mit
dem großen Land auf zwei Erdteilen, der Türkei,
Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen, war im Großen und
Ganzen positiv. Aber noch immer geht´s hoch her mit den Argumenten
pro und contra. Und es gibt auf beiden Seiten gravierende. Dennoch
wirkt es für mich eigenartig, wie sich da manche gestandene Aufklärer
aus der kritischen Achtundsechziger-Tradition
angstvoll zeigen vor dem Unheimlichen, das da auf die ach so
wohl gefügte Europäische Union zukommen soll. Andererseits
erweisen sich einige strenge Konservative als aufgeschlossen und
voll Bewunderung darüber, welche tief greifende innere Reformen das
70-Millionen-Volk gerade bewältigt. Und die hilflosen Vorschläge für
„Zwischenlösungen“, die nie konkret beschrieben werden?
Ein selbstbewusster Staat, der lange vertröstet wurde, lässt
sich mit Halbheiten nicht mehr abspeisen. Nur eines hat man – wie ich meine - bei aller Sorge um das Wohl der EU
vergessen: auf die Betroffenen zu hören. Auf jene Frauen und Männer,
die im Lande leben und ihre täglichen Erfahrungen zu machen haben
mit den Lebensverhältnissen, der Mentalität und den Gesetzen, die
die Menschen in der Türkei bestimmen. Drei von ihnen kenne ich. Da ist der Pfarrer der evangelischen Kreuzkirche im Gassengewirr von
Istanbul. Er, ein Deutscher, ist ganz selbstverständlich für einen
Beitritt seines Gastlandes zur EU. Schon jetzt registriert er
Erfreuliches: Langsam, aber merkbar, lockern sich die laizistischen
Religionsgesetze, die den Kirchen nur freundliche Duldung, nicht
aber gesetzliche Ansprüche zugestehen. Übrigens: Nicht der Islam
steht hinter diesen Gesetzen, es war Mustafa Kemal Atatürk, der die
Religion, den Islam wie auch die christlichen Minderheitskirchen,
aus der Gesellschaft verbannen wollte. Da ist der baptistische Pfarrer in der modernen Hafenstadt Izmir. Gerade hat seine Gemeinde nach zähem Ringen mit den Behörden eine alte aufgelassene Kirche neu für den Gottesdienst adaptiert. Er selbst ist Türke und hat gute Verbindungen mit den Politikern seines Stadtteils. Und er ersehnt die Möglichkeiten, die ein EU-Beitritt seines Landes für seine kleine Gruppe bedeutet, die derzeit noch eher eine Hausgemeinde ist. Und da ist der ökumenische Patriarch Bartholomaios I. Eine schwere
Geschichte hat seine griechisch-orthodoxe Kirche hinter sich. Er
kennt alle Höhen und Tiefen kirchenpolitischen Agierens. Seit
vielen Jahrhunderten lebt seine Kirche nach dem Satz aus dem Neuen
Testament: „Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue
Erde, nach Gottes Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ Dazu
gehört auch die Hoffnung auf eine neue Chance durch den Beitritt
der Türkei zur EU. Die orthodoxe Kirche ist, wie alle Kirchen in
der Türkei, bereit, diese Chance nicht nur zum Nutzen für sich
selbst zu verwerten, sondern zum Nutzen und zum Vorteil ihres Landes
und der gesamten Union Die beiden Pfarrer und der ökumenische Patriarch - drei leise Stimmen in
der lauten Diskussion, kirchliche Stimmen. Ich selbst habe mit den
drei Männern gesprochen. Sie haben wenig bis gar kein politisches
Gewicht im fernen Brüssel, auch nicht in der Debatte in Österreich.
Aber es sind Stimmen, aus denen eine Erfahrung spricht, die nicht
resigniert, die sich nicht fürchtet, sondern die zu hoffen bereit
ist. Es gibt viele Argumente für und wider einen Beitritt der Türkei zur EU,
Argumente der Wirtschaft, der Sicherheit, der Machtpolitik.
Dazwischen aber lebt die Hoffnung von Christen.
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