Das Evangelische Wort

Sonntag, 14. 11. 2004,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

von Superintendentin Mag. Luise Müller

 

Die Tage im November sind von meinem Empfinden her  - so dunkel wie kaum etwas anderes. Der Advent mit seiner Wärme ist noch so weit weg, gefühlsmäßig zumindest.

Das Kirchenjahr, das im November seinem Ende entgegengeht, unterstützt das: vom Gericht ist da die Rede und vom Tod. So wie im Wochenspruch dieser Woche wo es heißt: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. (2. Kor. 5,10). Eine unbequeme Aussage ist das. Ich als Angeklagte vor dem Richter Jesus Christus. Werde ich schuldig gesprochen? Wenn ja, was habe ich verbrochen? Wo habe ich versagt? Wo habe ich nicht so funktioniert wie Gott es wollte?

 

Sind wir ehrlich, jeder, der einigermaßen selbstkritisch ist, kann sein Versagen benennen. Wir sind unseren Leidenschaften ausgesetzt, unserer Gleichgültigkeit, unserer Konfliktscheuheit, unserer Beschränktheit. Oft ist unsere Kraft zu klein, das zu tun, von dem wir annehmen, dass es gut und richtig wäre. Wir bleiben auch hinter unseren eigenen Erwartungen zurück. Wie hören wir in diese Erfahrung hinein die Aussage vom Richterstuhl Christi? Sehen wir jemand, der da sitzt und aufrechnet, und dann einen Strich unter unser Leben zieht und schreibt: nicht genügend.

So ist das mit dem Gericht nicht zu verstehen. Da rechnet nicht einer die Summe unseres Gelingens aus und zieht davon unser gesammeltes Versagen ab. Unterm Strich steht etwas anderes. Da steht: Gott ist Liebe.

Shalom Ben Chorin schreibt von Gott:

 

Und suchst du meine Sünde, flieh ich von dir zu dir. Ursprung, in den ich münde, du fern und nah bei mir. Wie ich mich wend und drehe, geh ich von dir zu dir. Die Ferne und die Nähe sind aufgehoben hier. Von dir zu dir mein Schreiten, mein Weg und meine Ruh, Gericht und Gnad die beiden, bist du und immer du.

 

Unabhängig davon, wie unzureichend ich mir vorkomme, wie weit weg mir Gott erscheint, wie dunkel meine Gegenwart sein mag, wie unklar meine Zukunft, das letzte Wort hat die Liebe. Veränderungen können nur aus der Liebe heraus geschehen.

 

Vor drei Tagen hat sich zum 4. Mal der Tag gejährt, an dem in Kaprun 155 Menschen in der Gletscherbahn umgekommen sind. Die Trauer, das Entsetzen, die Wut über das, was da geschehen ist, sind noch lange nicht vorbei. Der Wunsch nach Versöhnung, nach Brückenbauen steht im Raum genauso wie der Vorwurf, dass Schuld unter den Tisch gekehrt wird, dass Schuldige nicht zur Verantwortung gezogen werden.

 

Kann Recht Gerechtigkeit schaffen? Kann Versöhnung verordnet werden? Ich bin bei beiden skeptisch. Ein Gerichtsverfahren kann juristisch einwandfrei sein und die Beteiligten können es trotzdem als Unrecht empfinden. Und Versöhnung kann nur geschenkt werden aus verzeihender Liebe.

 

Der November und seine dunklen Tage sind eine besondere Herausforderung. Gott scheint besonders fern zu sein. Bestenfalls als Richter zu erfahren. Doch auch im Gericht ist Gott mehr als das, wozu jeder Mensch fähig wäre. Nämlich der Liebende, der Nahe. Der, der von seiner Seite aus Versöhnung anbietet, auch mir, die ich Erfahrungen des Scheiterns mit mir herumtrage. Der mir zutraut, dass ich seine Versöhnung weiter trage.

 

Der Apostel Paulus schreibt Folgendes:

Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht an und hat unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott. (2. Kor. 5,19f)