Das Evangelische Wort

Sonntag, 21. 11. 2004,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

von Prof. Dr. Ulrich Körtner

 

 

Morgen tagt das Strafgericht. Um 14 Uhr. Anschließend das Familiengericht und danach das Jugendgericht. Schon mal gesehen? Die Weltgeschichte, schrieb einst Friedrich Schiller, ist das Weltgericht. Heute ist das Fernsehen seine Westentaschenausgabe.

 

     Im Vergleich zum Weltgericht alten Typs, wie es zum Beispiel Michelangelo an die Wände der Sixtinischen Kapelle gemalt hat, kann man heute zwischen mehreren Programmen wählen. Wem es in der Gerichtsverhandlung des einen Senders zu fad wird, kann zum Richter Gnadenlos auf dem anderen Kanal switchen. Medientechnisch und weltgerichtsmäßig ein großer Fortschritt! Der Philosoph Leibniz behauptete einst, die real existierende Welt sei die beste aller möglichen, wobei allerdings die Programmwahl Gott allein vorbehalten war. Heute können sich die Zuschauer selber nicht nur die beste aller möglichen Fernsehwelten, sondern auch noch das beste aller möglichen Weltgerichte wählen.

 

Das aufgeklärte Zeitalter hat Gott den Prozess gemacht. Der Vorwurf der Anklage lautete, wie Gott all das Übel in der Welt zulassen könne. Aus dem göttlichen Weltenrichter wurde der absolute Angeklagte. Als man Gott schließlich für tot erklärte, wendete sich das Blatt. Nun wurde der Mensch von seinesgleichen vor das große Weltgericht gezerrt. Die praktische Folge – so der Philosoph Odo Marquard - ist die Übertribunalisierung der modernen Gesellschaft. Marquard schreibt:

 

               „Der Mensch wird der absolute Angeklagte, und das ist – in nuce – der Befund, den ich als die ‚Übertribunalisierung’ der menschlichen Lebenswirklichkeit bezeichnet habe: dass fortan der Mensch wegen der Übel der Welt als absolut Angeklagter – vor einem Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist – unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationszwang gerät.“

 

Die erste historische Erscheinungsform dieser Übertribunalisierung war die Prozess- und Hinrichtungswelle, die sich während der Französischen Revolution über Frankreich ergoss. Ihr sollten in den folgenden Jahrhunderten noch viele Schauprozesse folgen, nicht nur unter Stalin und Hitler oder im kommunistischen China, sondern z.B. auch in der Mac-Carthy-Ära während der fünfziger Jahre in den USA, als die Angst vor kommunistischer Unterwanderung zu einer regelrechten Hexenjagd ausartete.

Und heute: Islamische Terroristen liquidieren ihre Geiseln vor laufender Kamera und stellen ihre Videos anschließend ins Internet. Auf der Gegenseite versichert der wiedergewählte amerikanische Präsident seinen Anhängern: „We will bring them to justice.“ Was man sich darunter vorzustellen hat, zeigen die Bilder von Folterungen irakischer Häftlinge im Abu-Ghraib-Gefängnis in Bagdad oder von afghanischen Gefangenen auf der Insel Guantánamo, denen elementare Gefangenenrechte vorenthalten werden.

Alle historischen Ereignisse, schrieb einst Karl Marx, geschehen zweimal: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Die täglichen Gerichtsshows im Privatfernsehen sind die Farce auf das moderne gnadenlose Weltgericht. Das sollte bedenken, wer den christlichen Gedanken an das Jüngste Gericht als erledigten Mythos abtun möchte.

 

Es stimmt, mit dem Jüngsten Gericht ist in der Geschichte des Christentums viel Missbrauch getrieben worden. Aber man sollte nicht vergessen, dass die göttliche Anklage nach christlicher Auffassung zugleich absolut ermäßig ist: nämlich durch göttliche Gnade. Da heißt es nicht nur: Im Zweifel für den Angeklagten aus Mangel an Beweisen, sondern: Freispruch trotz erwiesener Schuld.

Wenn ich mir die absolute Gnadenlosigkeit unserer übertribunalisierten Lebenswelt in ihren tragischen wie in ihren trivialen Erscheinungsformen vor Augen führe, hat der Gedanke an das Jüngste Gericht für mich geradezu etwas Tröstliches.

 

 

Der Autor ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

 

Quellenangabe: Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien (Universal-Bibliothek Nr. 7724), Philipp Reclam jun., Stuttgart 1981