Das Evangelische Wort

Sonntag, 05. 12. 2004,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

von Pfarrerin Mag. Renate Moshammer, Agoritschach-Arnoldstein

 

Die Menschen hasten durch die Straßen. Nicht nur das mitunter recht unfreundliche Wetter lässt sie den Kopf einziehen. Wer kann es sich schon leisten, nach rechts und links zu schauen. Überhaupt – in dem Gedränge achtet man am Besten auf die eigenen Füße. Vielleicht hört man noch ein Kind rufen: „Schau, Mama, der Nikolaus!“ Aber die Mutter kennt das alles doch schon längst. Mehr als ein ungeduldig gemurmeltes  „Komm weiter!“ kriegt das Kind nicht zur Antwort. Hinschauen? Das lohnt sich nicht.

 

Ja, das könnte ja nahezu gefährlich sein. Man könnte doch plötzlich Aug in Aug mit einem Bekannten stehen, den man partout nicht sehen will. Oder, noch schlimmer, mit einem Fremden. Einer Frau mit dunkler Haut und Kopftuch. Man könnte die ausgestreckte Hand eines Bettlers sehen oder mit Arbeitskollegen zusammenkommen – und die hat man doch ohnehin acht oder mehr Stunden pro Arbeitstag vor sich. Das muss man sich nicht auch noch antun, mitten im Weihnachtsstress, mitten in den Vorbereitungen auf das große Fest der Ankunft Gottes in dieser Welt. Oder? Also: Kopf tief halten und durch!

 

Wie anders ist da der Rat, den der Evangelist Lukas gibt. Er schreibt nicht nur von der Ankunft Gottes zu Weihnachten, in der Mitte der Zeit. Er schreibt auch von der Wiederkunft Christi als Richter am Ende der Zeit. Gerade da gibt Lukas den Rat: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ (Lk. 21, 28b)

 

Aufschauen, den Blick vom Boden heben. Das geht mit einer Bewegung des ganzen Körpers einher. Der Rücken wird gerader, die Falten auf der Stirn glätten sich. Die Atmung wird frei. Das Blickfeld wird größer.

 

Ich stelle mir vor,  wie das wäre, wenn die Menschen auf den Straßen plötzlich diesem Rat folgten. Eine Bewegungswelle geht durch die Menge. Der eine oder andere bleibt stehen, erstaunt über den weiten Blick, der sich ihm da plötzlich bietet. Dort begrüßen sich zwei, die beinahe an einander vorbeigelaufen wären. Da fällt das Licht auf ein Gesicht und lässt sogar die Falten leuchten – die Falten des Alters, der Sorge und der Einsamkeit.

 

Und die Seele? Auch die kann sich aufrichten und durchatmen und erkennen, wie wertvoll jeder Augenblick und jeder einzelne Mensch ist. Die Seele kann sich aufrichten und die Angst abschütteln. Die Angst, zu kurz zu kommen. Diese festsitzende Angst, dass Menschen mit anderen Meinungen, mit anderem Aussehen, mit anderer Sprache eine Gefahr bedeuten. Die Angst, dass Offenheit nur mit Schmerz Hand in Hand geht und nicht mit Freude und Vertrauen.

 

„Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ Mit dem Ende der Zeit verknüpft Lukas diesen Rat, diese Verheißung. Als Zuspruch stehen diese Worte über dieser Woche im Advent, über dem Weg auf Weihnachten hin, zu dem Fest, „als die Zeit erfüllt ward“. Auf beides kann uns der Advent einstimmen. Und immer will er uns ermutigen, aufrecht durch unser Leben zu gehen. Darauf zu achten, was oder wer neben uns ist und einander in die Augen zu schauen. Es kann ja sein, dass wir dann merken, dass Gott noch ganz anders in diese Welt kommt – nicht nur als süßes Kind in der Krippe am Heiligen Abend und auch nicht nur als strenger Richter am Ende der Zeit, sondern auch als Bruder und Schwester in Menschengestalt. Jetzt. Heute. Darum „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“