Das Evangelische Wort

Sonntag, 13. 03. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Dr. Jutta Henner

 

 

„Abenteuer Spiritualität“ – Unter diesem Motto hat die Evangelische Kirche in Österreich heuer ein „Jahr der Spiritualität“ ausgerufen. Abenteuer Spiritualität – das scheint auf den ersten Blick kein wirklich evangelisches Thema zu sein. Die evangelische Kirche ist in der Öffentlichkeit eher für Nüchternheit, kompetente Bibelauslegung und für gesellschaftliches und kritisches Engagement bekannt.

 

Kern evangelischer Spiritualität – früher sprach man von Frömmigkeit – ist die Bibel. Die Reformation gab jedem Christen die Bibel in die Hand. Traditionelle evangelische Spiritualität hat etwas sehr Geerdetes: Gottes Wort wird als Wegweisung für den konkreten Alltag erfahren, jeden Tag neu. Evangelische Spiritualität kennt keinen Unterschied zwischen Theologen und Laien: Jeder und jedem steht die Begegnung mit der Bibel als lebendigem Wort Gottes offen. Martin Luther empfahl seinen Zeitgenossen die tägliche Lektüre der Bibel, vor allem des Johannesevangeliums, des Römerbriefes sowie des ersten Petrusbriefes. Ja man solle sie sich „so gemein machen wie das täglich Brot.“

 

Ich könnte als klassische Formen evangelischer Spiritualität die Hausandacht in der Familie mit Gebet, Gesang und Lesen der Bibel am Beginn des Tages nennen. Bibellesepläne und Auslegungen zu den täglichen Bibellesungen sind weit verbreitet. Ich könnte mir ohne die morgendliche Bibellese den Tag nicht vorstellen. Das „Losungsbüchlein“ der Herrnhuter Brüdergemeinde gibt es seit 275 Jahren: Jedem Tag des Jahres sind ein Bibelvers aus dem Alten Testament, ein thematisch passender Vers aus dem Neuen Testament und ein Gebet oder Liedvers zugeordnet. Typisch für evangelische Spiritualität ist die Bedeutung einzelner Bibelverse, die durch den Tag, den Monat, das Jahr oder das Leben begleiten.

 

Das persönliche Bibellesen kann leicht zu einer kopflastigen Sache werden, auch kann Routine einkehren. Eine lebendige Spiritualität dagegen lässt den Glauben unter die Haut und zu Herzen gehen. Gemeinschaftliche Zugänge und individuelle Frömmigkeit gehören zusammen.

 

Bereits lautes Lesen und Vorlesen, Erzählen, Singen und Spielen biblischer Texte erschließt neue Dimensionen. Schweigen, Stille und Meditation können zu einer Gottesbegegnung führen. Körper und Seele, der ganze Mensch ist gerufen, den Glauben zu feiern. Feier und Spiel, Begegnung und Befreiung, Unterwegs sein ermöglichen vertiefte Erfahrungen. Die Formen mögen verschieden sein: von Tanz bis Bibliodrama, von Erfahrungen mit Musik und Kunst bis Psalmgebet.

 

Wer sich auf das Abenteuer Spiritualität einlässt, kann Überraschungen erleben: Der Blick wird geweitet über den engen Horizont hinaus. Die Wirklichkeit Gottes kommt in den Blick und die Welt, in der wir leben. Wer neugierig den vielfältigen Schatz der Frömmigkeitsformen entdeckt, wird herausgerufen aus dem Alltag und der Selbstbezogenheit.

 

Spiritualität, die hinführt zur einen frohen und befreienden Botschaft und ihrer Umsetzung ins Leben im Alltag, ist bereichernd. Spiritualität – schon im Wort „spiritus“ steckt ja der „Geist“, der „Heilige Geist“, der nach der Bibel, „weht, wo er will“, der quicklebendig ist, Menschen verwandelt, erneuert, befreit und beflügelt.

 

Das Abenteuer Spiritualität, das Ausprobieren und Entdecken steht allen offen, den Gemeinden und Einzelnen – und beileibe nicht nur den evangelischen Christinnen und Christen. Man hört, Spiritualität sei „in“. Ein spannendes, ein kreatives Jahr kann es werden. Einmal mehr gilt das Wort des Paulus aus dem ersten Thessalonicherbrief: „Prüft aber alles, und das Gute behaltet.“