Das Evangelische Wort

Sonntag, 03. 04. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrerin Gabriele Lang-Czedik

 

 

Mystik und Widerstand im Alltag

 

Auf dem Weg von der Friedhofshalle zum Grab, vor dem Sarg gehe ich her, die trauernde Familie dahinter… bei unserem langen Vorgespräch war soviel Verzweiflung gewesen: „Das hätte doch nicht passieren dürfen! Sie war noch viel zu jung! Zwei Kinder hat sie zurücklassen müssen…“

Zwischen anderen Gräbern gehen wir durch, steinerne Grabplatten, dann wieder Erde, aus der noch keine Blume wächst.

Wie werden die Hinterbliebenen es schaffen? Und ich soll von Trost sprechen. Wer bin ich denn? So klein, nichts kann ich verändern.

Da steigen in mir andere Bilder auf: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er selbst, Gott, mit ihnen und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein…“

 

Jetzt weiß ich, was ich sagen werde am Grab. Von der Liebe werde ich sprechen, die die Lebenden untereinander noch haben, von dem Halt, den sie einander geben können, weil Gott sie hält. Und nach der Feier werde ich sie einladen, wieder zu kommen und zu reden über ihren Schmerz, so oft es ihnen gut tut. Und fragen, ob die Kinder mitfahren wollen auf unser Kinderlager, das Geld darf kein Hindernis sein.

 

Die Familie bedankt sich, es sei so viel Trost am Grab gewesen, so viel Hilfe in ihrer Lage. Aber ich habe selber nasse Augen, wie ich sie umarme beim Abschied. Ich kann nichts verändern an ihrem Verlust. Nur Nähe will ich ihnen anbieten - auch weiterhin - und Gemeinschaft mit anderen.

 

Den Tod will ich bekämpfen, den der Verzweiflung und der Verlassenheit. Trotzig geh ich dagegen an, immer wieder. Warum? Weil die Bilder in mir mich dazu treiben. Das Bild von Gott, der die Tränen der Menschen abwischt. Das Bild des Christus, auferstanden aus dem Grab, die Hände mit den Wundmalen erhoben, „Friede sei mit euch!“

 

Bilder, die mich prägen.

Bilder, die mich stark machen, immer wieder.

Keine Dogmen, keine rein logischen Überlegungen, keine kirchlichen Aufträge sind es, die mich zum Kampf gegen die Todesmächte treiben, sondern Bilder aus der mystischen Tradition der Bibel.

 

Ikonen des gelingenden Lebens in mir, die den äußeren Bildern Widerstand leisten. Den Bildern von gestylter Kälte und Konsum - verliebter Schönheit ebenso wie den Bildern von Elend und Einsamkeit, von Gewalt und Unterdrückung.

Die mystischen Bilder in mir sind stärker.

 

„Mystik und Widerstand“ heißt eines der letzten Bücher von Dorothee Sölle. Widerstand, der aus der Mystik erwächst, war ihr Thema immer mehr. So schreibt sie 1999: „Ohne Mystik können wir nicht leben. Und ich habe von Christen gelernt, dass das Bekenntnis zum Gott des Lebens immer den Widerstand gegen die Mächte des Todes einschließt….Aber können wir denn tun, was Gott tut? Lieben, was Er liebt, wollen, was er will? ... Die mystische Tradition antwortet auf diese Frage mit einem klaren Ja. Unser Widerstand wächst aus einer mystischen Liebe zu Gott.“ (1)

 

Genau darin finde ich auch die Kraft und den Sinn von Ostern: Dass einer aufgestanden ist gegen die Mächte der Zerstörung. Und dass wir mit auferstehen aus unserer Ohnmacht und aufstehen für das Leben, dort wo wir es bedroht sehen. Dass wir Gottes Hütte unter den Menschen darstellen und in seinem Namen abwischen alle Tränen, bis der Schmerz nicht mehr sein wird und der Tod sein Recht verloren hat. Denn der, an den wir glauben, spricht: „Seht, ich mache alles neu!“

 

 

(1) Dorothee Sölle: „Erinnert Euch an den Regenbogen“, Freiburg, 1999