Das Evangelische Wort

Sonntag, 01. 05. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Mag. Roland Ritter-Werneck, Leiter der Evangelischen Akademie Wien

 

 

„Lasst uns lieber von der Zukunft reden, ich kann dieses ewige Herumstochern in der Vergangenheit schon nicht mehr hören.“

Kommt Ihnen dieser Satz oder so ähnliche Bemerkungen bekannt vor? Haben Sie sie vielleicht schon einmal selbst gespürt, die Sehnsucht nach einem Schlussstrich, Schwamm drüber, vergessen wir, was war, lasst uns neu anfangen?

 

Ich kann diese Sehnsucht manchmal gut nachvollziehen. Nach einem Konflikt in der Familie oder im Bekanntenkreis z.B. kann es ja ganz schön mühsam sein, über das, was passiert ist, zu reden. Die Vorstellung, ganz einfach wieder von vorne anfangen zu können, ist sehr verlockend.

 

Wenn ich ehrlich gegenüber mir selbst bin, spüre ich aber bald, es geht eigentlich nicht. So einfach funktioniert das Vergessen nicht. Meine Seele funktioniert nicht wie eine Festplatte im Computer, wo ich auf Knopfdruck bestimmte Dateien löschen kann. Die Zeit heilt nicht alle Wunden von allein.

Die Vergangenheit vergeht nicht von selbst. Wenn ich einen Konflikt bereinigen will, muss ich mich damit beschäftigen, was passiert ist und muss mich auch mit der Sichtweise der anderen Seite auseinander setzen.

 

In diesen Tagen werden wir von den Medien in vielfältiger Weise an die Vergangenheit vor 50 und 60 Jahren erinnert. 60 Jahre Kriegsende, 50 Jahre Staatsvertrag – manche sagen, ich kann es schon nicht mehr hören, lasst mich mit der Vergangenheit in Ruhe! Gibt es nicht andere Themen, die wichtiger sind? Die zunehmende Arbeitslosigkeit in Europa, die Globalisierung, die Ungerechtigkeiten zwischen arm und reich – darüber sollte doch am 1. Mai gesprochen werden!

In manchen Geschichtsbüchern wird das Jahr 1945 als Stunde Null bezeichnet.

Da ist sie wieder: die verlockende Vorstellung, alles, was vorher war, zu vergessen und ganz neu anfangen zu können.

Aber wir merken immer wieder, wie schwierig das ist. Die Zeit heilt nicht alle Wunden von allein.  Die Vergangenheit vergeht nicht von selbst. Wir können über das Verhältnis der Generationen heute nicht reden, ohne die Geschichten von früher zu erzählen und uns erzählen zu lassen. Wie kommt es z.B., dass in Österreich Soldaten, die sich weigerten, für die Deutsche Wehrmacht im Krieg zu kämpfen, seit 60 Jahren auf Entschädigung warten? Warum beschimpft ein Politiker im Jahr 2005 Deserteure als „Kameradenmörder?“

Die Geschichte holt uns immer wieder ein, sie ist in unseren Seelen gegenwärtig, bewusst oder unbewusst, auch bei den Nachgeborenen, den nachfolgenden Generationen. So mühsam und anstrengend es manchmal auch ist: immer noch ist es wichtig, über diese Zeit zu erzählen, zu diskutieren, zu streiten.

 

Auch die brennenden sozialen Probleme der Gegenwart können nicht losgelöst von der Geschichte eines Volkes betrachtet werden. Es gehört  immer beides zusammen: das Gedenken an die Vergangenheit und das Bemühen um soziale Gerechtigkeit. Die Bibel kennt diesen Zusammenhang sehr gut.

 

Als das Volk Israel nach dem 40jährigen Durchzug durch die Wüste kurz vor dem Ziel im gelobten Land steht, schärft ihm sein Anführer Mose ein: Gedenke der Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen!

 

Die Botschaft des Mose ist bis heute aktuell: Die Fragen nach der Zukunft: wie können wir in Frieden und Gerechtigkeit miteinander leben -  können nicht ohne die Erinnerung an die Vergangenheit  beantwortet werden.

Schlussstriche sind manchmal verlockend, aber sie öffnen keine Zukunftsperspektive.