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Das Evangelische WortSonntag, 22. 05. 2005, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
„Mitgehangen – Mitgefangen“ von Pfarrer Dr. Matthias Geist
Ich
bin Gefängnisseelsorger und zuständig für die Wiener Gefängnisse.
Meistens betreue ich Gefangene und höre Verschiedenstes, was sie so
vom ersten Hafttag an beschäftigt. Vieles belastet sie, auch und
vor allem die massive Trennung von ihren Angehörigen. Heute möchte
ich gerade an die denken, die es oft genauso schwer haben: an die,
die mitgehangen und mitgefangen sind. Ich denk da an eine Mutter von
einem Häftling, mit der ich immer wieder telefoniert habe. Sie hat
bis vor einem Jahr ihrem Sohn immer Briefe geschrieben. 23 Jahre
lang hindurch, zweimal wöchentlich mit den Briefmarken fürs Rückporto!
Jetzt ist sie mit über 80 Jahren im Burgenland gestorben. Vor ihrem
Tod hat ihr Sohn sie noch dreimal im Krankenhaus unter Bewachung
besuchen dürfen. Seither sitzt er ohne irgendeine Bezugsperson in
einem Wiener Gefängnis, noch immer mit seiner lebenslänglichen
Haftstrafe. Ich hätte mir da einen anderen, einen menschlicheren
Abschied der beiden, vor allem auch für die Mutter, vorstellen können.
Gott
sagt: „Ich wohne in der Höhe, in unnahbarer Heiligkeit. Aber ich
wohne auch bei den Gedemütigten und Verzagten, ich gebe ihnen
Hoffnung und neuen Mut!“ (Jesaja 57, 15b) Ist Gott nicht doch weit weg von denen, die mitgefangen und verzagt sind?
Eine Frau von einem Gefangenen hat mir in den letzten Wochen immer
wieder e-mails geschickt, in einem ist drinnen gestanden: „Eigentlich werden wir ja mit-bestraft und gedemütigt. Wer hilft und
denkt an uns?“ Ausgesucht hat sie sich diese Lebenslage
wahrlich nicht. Und sie spürt täglich die Demütigung, wenn auf
sie mit dem Finger gezeigt wird. Heute, am Sonntag, und auch unter der Woche fahren hunderte, ja in ganz
Österreich tausende Leute ihre Angehörigen im Gefängnis besuchen
und zeigen dadurch: Ich mag dich – trotzdem! Manche fahren zwei
Stunden hin, zwei Stunden zurück! Zeit, Geld, Energie,
Durchhaltevermögen, alles wird ihnen abverlangt und oft noch, dass
sie in ihrem Alltag gute Miene zum schrecklichen Spiel machen!
Unglaublich, was die Leute dabei seelisch auch alles ertragen müssen.
Und trotzdem habe ich auch ganz menschliche Szenen erlebt, solche, die
wohl nicht nur mich, sondern auch die Betroffenen aufatmen haben
lassen. Es war in der Justizanstalt Stein, in der ein Kind das Gefängnis
ganz ungewöhnlich bereichert hat. Das ungefähr 2-jährige Kind,
das hat in diese Atmosphäre des Gefangenseins etwas zurück
gebracht, was sonst niemand mehr kann: Leben, Vertrauen,
Unbeschwertheit, Entwicklung. So ein Kind blinzelt mich, einen völlig
Fremden, neckisch an, es krabbelt auf Tischen und Sesseln herum, es
schneidet Grimassen, findet das Gefängnis gar nicht so bedrohlich,
sondern erheiternd. Da ist wieder Freude in das verloren geglaubte
Leben gekommen. Durch ein Kind, das vor sich hin trällert, ist Gott
da. Gott ist in so einem spielenden Kind spürbar. Das Kind als
Ebenbild Gottes, der sagt: „Ich
wohne auch bei den Gedemütigten und Verzagten, ich gebe ihnen
Hoffnung und neuen Mut!“ Ein
Kind, ein Ebenbild Gottes, bricht das Schweigen. Es stimmt den
Berichten über hohe Haftstrafen nicht einfach zu, sondern tritt in
Widerspruch zum Strafen um des Strafens willen. Es zeigt uns was
vor. Und manchmal fordert ein Kind auch unter Tränen seinen Vater
ein und beide sind durch ihre Zuneigung beschenkt. In diesen
Momenten werden dann alle, die Gefangenen und die, die mitgehangen
und mitgefangen sind, zu echten Kindern Gottes.
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