Das Evangelische WortSonntag, 26. 04. 2005, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von Oberkirchenrätin Dr. Hannelore Reiner, Wien Ein Vormittag kann lang werden. Das Handy liegt während
der Sitzung immer eingeschaltet vor mir. Jedes Mal, wenn eine Nummer
sichtbar wird, schaue ich nervös und gespannt hin. Endlich – um
14.00 Uhr der erlösende Anruf unseres Sohnes: Matura bestanden! Etlichen Vätern und Müttern wird es in diesen Tagen und
Wochen wohl ähnlich ergangen sein bzw. ergehen. Ein Schuljahr neigt
sich wieder dem Ende zu und herrlich, wenn Lehrerschaft, Eltern und
vor allem Schüler und Schülerinnen sagen können: Ende gut, alles
gut. Freilich ist das nicht immer so. Negative Zeugnisnoten können
nicht bloß einen Sommer und die Ferienzeit vermiesen, sie können
auch Kinder und junge Menschen an den Rand der Verzweiflung treiben.
Gerade in solch belasteten Situationen kommt es ganz entscheidend
auf das Verhalten und die Reaktion der Eltern an. Wartet zu Hause
ein verständnisvoller Vater, der sich vielleicht auch an eigene
Fehlleistungen erinnern kann, wartet eine liebevolle Mutter, die es
versteht, schlechte Zeugnisnoten zu relativieren und auf das zu
schauen, was gut, vielleicht sehr gut gegangen ist – oder muss das
Kind damit rechnen, dass Strafe und damit psychische und womöglich
auch physische Gewalt auf es wartet?
Die Diskussion um die so genannte „gsunde Watschn“ ist
in Österreich längst abgeflaut, aber die Gewalt an Kindern und
Jugendlichen in allen erdenklichen Formen ist leider damit nicht aus
der Welt geschafft worden. Wer auch nur ein wenig, etwa über
Frauenhäuser und SOS-Kinderdorf-Familien Einblick bekommt, in das
was sich hinter Wohnungstüren und in Kinderzimmern abspielt, und
aus welchen Gewaltszenarien diese Kinder herausgeholt wurden, der
wird an der Gebildetheit, ja an der Humanität mancher Zeitgenossen
zu zweifeln beginnen.
Mir ist einsichtig, dass es Verzweiflungstaten gibt, wo selbst erlittenes Unrecht und Gewalt auf den Schwächeren, sprich die Kinder, abgewälzt wird. Aber auch das kann letztlich keine Entschuldigung sein. Denn Kinder sind die verletzlichste und kostbarste Gabe, die Gott uns als Eltern und Begleiter anvertraut hat. Im Matthäusevangelium unterstreicht Jesus dies noch in besonderer Weise:
Matthäus 18, 1 – 5 In jener Stunde kamen die Jünger
zu Jesus und fragten: Wer ist der größte im Himmelreich? Da rief
er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, das
sage ich euch: wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt
ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie
dieses Kind, der ist im Himmelreich der größte. Und wer ein
solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf. Das ist ein Kontrapunkt zu allen einschlägigen Schreckensbildern. Ich wünsche mir, dass wir Kinder, gleich ob mit guten oder weniger guten Zeugnisnoten, in diesem Geist annehmen.
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