Das Evangelische Wort

Sonntag, 24. 07. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

"Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer“

von Mag. Barbara Knittel

 

Wieder zum Alltag überzugehen – seit zwei Wochen, nach den Anschlägen in London sind die Bemühungen darum groß. Weiter zu leben, wieder Ordnungen mitten im Chaos zu schaffen, auch um mit dem Schock besser zu Recht zu kommen. Aber die Terrorwelle hört nicht auf. Die vergangenen Tage in London und  gestern in Sharm el Scheik! Der Schock und die Angst vertiefen sich. Und doch, heute am Sonntag ist es uns hier, die wir in relativer Ruhe leben ja möglich, uns Zeit zu nehmen, um an die Betroffenen zu denken, an die Toten, an die Verletzten, an die Angehörigen und Freunde. An alle, die noch tief im Schock stehen. So wird es möglich, an ihrem Schmerz, an ihrer Erstarrung Anteil zu nehmen, sei es im Gebet, sei es in stiller Verbundenheit.

 

Natürlich, Sonntagmorgen, mitten im Sommer, da wünsch ich mir selbst auch schönere und leichtere Gedanken und Erlebnisse. Aber in diesen hellen Tagen liegt ja auch eine Kraft um sich offen zu halten, für das was ist. Wo zugleich auch im Irak täglich Menschen durch Selbstmordattentäter umkommen und diese Art des Krieges nun deutlicher nach Europa herüberschwappt!

 

Die Anteilnahme an den Opfern, das kann schmerzhaft sein und Angst machen, das kann auch an eigenen Erfahrungen rühren. Vielleicht nicht ganz so existenziell, wie in London, aber in anderer Weise zum Opfer zu werden, das kennen ja viele. Die eigene Betroffenheit kann da aber helfen um sich in die Menschen dort besser einzufühlen.

Was ich aber noch viel härter empfinde, das ist, sich den Tätern zuzuwenden. Wenn ich in den Zeitungen lese, dann ist die Neugierde an den Tätern ja sehr groß. Da wird immer unterschieden zwischen den großen Drahtziehern und den kleinen Fischen, zwischen denen, die im Hintergrund die Macht und das Geld haben und denen die im Vordergrund die Mörderarbeit machen. Wenn ich das lese, achte ich immer auf den Unterton. Geht es darum, sich die Täter vom Leib zu halten oder geht es um einen Versuch, auch ein bisschen zu verstehen, was in ihnen vorgehen könnte.

 

Ich denke immer, diese Männer und Frauen sind ja nicht als Täter auf die Welt gekommen, sondern sie sind es geworden, auch durch die große weltweite Ungerechtigkeit in der Verteilung der Güter dieser Erde. Ich persönlich habe Glück gehabt und konnte viele Lebensmöglichkeiten ausschöpfen, aber das Potenzial zur Täterin habe ich auch in mir. Ich denke, das steckt in jedem Menschen, nur die Ausformungen sind verschieden. Allein in dem Gedanken – recht geschieht ihnen, wenn diese Mörder lebenslänglich eingelocht werden – ist schon etwas davon drin.

 

Wo Opfer sind, da sind auch Täter und es ist hilfreich, dieses Szenario nicht nur von außen zu sehen, sondern auch im eigenen Inneren kennen zu lernen. Und dann? Vielleicht beginnt dann ein Drittes. Nicht nur Opfer und Täterin sondern auch Beteiligte an der Versöhnung zu werden. Das kann mit sehr kleinen Schritten geschehen - womöglich auch jetzt - mit dieser sonntäglichen Unterbrechung.

Mit dem Gedanken, dass es zu den Opfern und den Tätern noch ein Drittes braucht, knüpfe ich an einer ganz alten Tradition an. Wie ein roter Faden zieht sich das durch mehrer biblische Texte schon aus dem 6. und dem 3. Jahrhundert vor Christus und natürlich aus der frühchristlichen Gedankenwelt. Da werden die Freunde Jesu beauftragt zu lehren, dass Gott nicht Opfer - und ich setzte jetzt hinzu - nicht Täter will, sondern Barmherzigkeit. Und wer sich schwer tut mit diesem Wort -Barmherzigkeit - kann auch gleich auf den alten, prophetischen Text bei Hosea zurückgreifen, wo Gott sagt:

"Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer" (Hos. 6/6)