Das Evangelische Wort

Sonntag, 30. 10. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

von Dr. Gerold Lehner, Superintendent der Diözese Oberösterreich

 

Am Dienstag dieser Woche ist in Detroit Rosa Parks gestorben. Die wenigsten kennen sie. Aber sie ist eine Frau von geschichtlicher Bedeutung. Vor ziemlich genau fünfzig Jahren hat sie dadurch dass sie sitzen geblieben ist, eine Protestbewegung ausgelöst, die zu den beeindruckendsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts gehört. Im Süden der USA herrschte Rassentrennung. Die 42jährige Schwarze Rosa Parks weigerte sich, ihren Sitzplatz einem Weißen zu überlassen. Der Fahrer verständigte die Polizei und Rosa Parks wurde verhaftet.

Diesmal aber wurde die Schikane nicht mehr hingenommen. Die Schwarzen versammelten sich in der Kirche, die Busse wurden bestreikt; Martin Luther King predigte einen Widerstand, der seine Wurzel in der Würde des Menschen hatte. Einen Widerstand, der auch dem Gegner diese Würde zuerkannte. Wozu er aufrief war nicht Hass und Empörung, sondern dazu die Feinde zu lieben und sie mit dieser Liebe zu überwinden.

Als Rosa Parks später gefragt wurde, warum sie sitzen geblieben sei, sagte sie: „Es war eine Frage der Würde.“ (Papers of Martin Luther King III, 237)

Den schwarzen Menschen Amerikas war ihre Würde genommen worden. Aber vom Evangelium her wurde ihnen eine unverlierbare Würde als Töchter und Söhne Gottes zugesprochen. Und aus dieser Würde heraus haben sie ihren weißen Schwestern und Brüdern eine Lektion erteilt, die wir nie vergessen werden.

 

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes“, so sagt es Paulus (Röm.1, 16). Eine Kraft, die macht, dass Menschen sich aufrichten, dass sie Mut fassen. Einen Mut, wie ihn Rosa Parks bewiesen hat. In ihrem Fall den Mut, sitzen zu bleiben.

 

Die Evangelische Kirche feiert morgen das Reformationsfest. Vor beinahe fünfhundert Jahren, 1517, hat Martin Luther den Mut gehabt aufzustehen. Er hat 95 Thesen verfasst. Thesen, die damit zu tun hatten, dass mit dem Glauben Geschäfte gemacht wurden. Ich kann mir vorstellen, dass er am Vorabend sein Blatt fertig geschrieben hat und dass er dann damit in seiner Kammer gesessen ist. Und dass er sich überlegt hat: soll ich die wirklich öffentlich machen, oder soll ich nicht doch lieber schweigen? Er ist aufgestanden, er hat seine Thesen genommen und sie an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg geschlagen. Die Bewegung, die er damit lostrat, hat ihn in Bedrängnis gebracht, - und doch unzähligen Menschen Freiheit und Trost, einen zuversichtlichen Glauben an die Güte Gottes.

 

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes.“ Eine Kraft, die macht, dass Menschen sich aufrichten, dass sie Mut fassen.

 

Der Protest, der in beiden Menschen wach geworden ist, das war kein einfaches „dagegen sein“. Das Wort Protest hat heute einen eindeutig negativen Klang.  Aber das Wort ist schön und gut. Denn eigentlich meint es: etwas bezeugen, für etwas eintreten. Der Protest von Rosa Parks und der Protest von Martin Luther - er bezeugt etwas. Er weist hin auf die Kraftquelle des Evangeliums. Deshalb hat dieser Protest Kraft gehabt, deshalb hat er Kreise gezogen.

Zu diesem Protest sind wir gerufen. Denn wir bezeugen damit, dass Gott den Menschen zum Menschsein befreit, dass er ihn würdigt. Dass er ihm die Kraft gibt, nun selbst die anderen Menschen ebenfalls zu würdigen. Ihnen so zu begegnen, dass sie nicht erniedrigt werden, sondern aufgerichtet, frei zu ihrem wahren Menschsein.

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes zur Erlösung.“

Erlösung heißt Befreiung.

Befreiung vom Zwang, sich die eigene Würde erarbeiten zu müssen, Befreiung von dem Wahn, nur etwas wert zu sein, wenn wir etwas leisten, wenn wir jung sind, und schön und gesund. Dafür protestieren wir. Ob wir aufstehen wie Martin Luther, oder sitzen bleiben wie Rosa Parks.