Das Evangelische WortSonntag, 13. 11. 2005, 6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1
von Pfarrer Peter Karner, Wien 5. Mose 4/7-9 Dieses
Volk ist vernünftig und einsichtig. Denn wo gibt es denn noch ein
Volk, das einen Gott hat, der ihm so Nahe ist wie unser Gott? Und wo
gibt es denn ein Volk, dem ich so gute Gesetze gebe wie euch? Nur hüte
dich, und nimm dich deinem Leben zuliebe in Acht, dass du nicht
vergisst, was deine Augen gesehen haben. Dein Leben lang sollst du
diese Ereignisse nicht vergessen. Und du sollst deinen Kindern und
Enkelkindern davon erzählen. Da spricht ein Jahrtausend altes Buch mitten in unser Gedenk- und Bedenkjahr 2005 hinein. Ganz optimistisch wird hier gesagt, dass ein vernünftiges und einsichtiges Volk von Gott auch gute Gesetze bekommt. Und das trifft ja wohl auf uns Österreicher zu. Aber mit guten Gesetzen allein ist es scheints nicht getan.
Zu den guten Gesetzen kommt die Warnung:
Vergiss
nicht, was deine Augen gesehen haben; vergiss nicht, was du erlebt
hast. Zum Gesetz muss die Kenntnis der Vergangenheit kommen, damit
das Gesetz besser verstanden werden kann. Und darum werden schon vor
so langer Zeit Leute
gewarnt: Verdrängt nicht die Erfahrungen, die ihr mit den Gesetzen
gemacht habt.
Ich will nicht lange um den Brei herumreden. Hier wird über die Zeiten hinweg auch unserer Generation gesagt: Es genügt nicht, wenn Ihnen die 10 Gebote gefallen. Sondern: Wie war das in Ihrer Vergangenheit und in der Vergangenheit Ihres Volkes? Haben Sie gestohlen? Betrogen? Haben Sie wen verleumdet oder verraten?
Haben Sie vielleicht viele von den Verbrechen, Gemeinheiten und Schweinerein gesehen, die seinerzeit begangen wurden – und Sie haben dazu geschwiegen. Aus guten Gründen natürlich, waren sie damals überzeugt. Was waren das für „gute Gründe“ sollte man sich fragen. Angst und Sorge um die Familie, das starke Bedürfnis zu überleben? Sind Sie auch heute noch überzeugt, dass das überhaupt nichts mit Feigheit zu tun gehabt hat. Man ist ja schließlich kein Märtyrer – außerdem: wem hätte ihr Opfer schon genützt? Und deshalb haben ja auch nach 1945 viele Österreicher und Österreicherinnen für sich selbst „auf Freispruch“ plädiert.
Kein
Mensch leugnet – zumindest vor sich selbst – was er alles getan
oder unterlassen hat. Aber man muss eben berücksichtigen, dass es
die politischen Umstände und Zustände nicht zugelassen haben, das
zu tun, was man für richtig und menschlich hält. In dem Krätzel,
wo ich aufgewachsen bin, haben fast alle so gedacht. Und das
durchaus mit einer gewissen Berechtigung. Die Konsequenz davon ist
nur: Haben eigentlich Hitler, Himmler, Goebbels und Göring alles
allein gemacht? Und vor allem: sind die die sich längst
freigesprochen haben sicher, dass sie keine Fleißaufgabe gemacht
haben? Also Untaten begangen haben, zu denen sie sicher niemand
gezwungen hat.
In Österreich gibt es mehrere heimliche Bundeshymnen – und das Operettenlied „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist!“ gehört sicher dazu. G’schehn is g’schehn, was solls? „Lassts doch endlich die alten Geschichten ruhn!“ Das ist genau das Gegenteil von dem alten Bibelwort. Das sagt bekanntlich: Du sollst deine Erlebnisse eben gerade nicht ruhen lassen, sondern du sollst sie deinen Kindern und Enkeln erzählen. Auch wenn sie selbst dabei nicht gut wegkommen.
Erfreulicherweise
gibt es gar nicht wenige Landsleute, die ihrer Nachkommenschaft die
eigene politische Familiengeschichte nicht verschweigen.
Das
gleiche Problem war ja auch bisher in diesem „Gedankenjahr“ zu
spüren. Viel gut gemeintes Wischi-waschi über Gegenwart und
Zukunft – und dazu eine chemisch gereinigte Vergangenheit in
kleinen Nebensätzen. Soll man bestimmten Personen des öffentlichen
Lebens „bös“ sein, weil sie tun, was sie gelernt haben? Gerade
deshalb war es z.B. geradezu eine Wonne, die Rede des
Staatsoperndirektors Ioan Holender beim Festakt „50 Jahre
Wiederaufbau der Oper“ zu hören. Bei aller Freude am Fest: da
wurde nichts ausgelassen, nichts beschönigt oder mit erbärmlichen
Argumenten entschuldigt. Und insoweit „vernünftige und
einsichtige Festgäste“ da waren, haben sie auch bei diesem
Redeteil applaudiert. Und da sagt jemand, dass es keine Vorbilder
mehr gibt?
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