Gedanken für den Tag
15. bis 20. 10. 2001, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr
von Dr. Veronika Prüller-Jagenteufel
Von der Kunst, Abstand zu halten
15. Oktober 2001
Nach jeder Fahrt über die
Autobahn denke ich mir, jetzt kaufe ich mir auch so ein Schild, das
manche Autos am Heck kleben haben: Abstand halten! Zu lästig sind
die Fahrer, die mir in ihrem Drängen nach möglichst schnellem
Fortkommen zu nahe kommen.
Abstand halten: Die drängelnden
Zeitgenossen, die das Risiko eines Unfalls geringer achten als ihre
unbehinderte freie Fahrt, sie haben mich zum Nachdenken gebracht
über die Kunst, Abstand zu halten, eine gute und gesunde Distanz zu
wahren. Es scheint mir das eine Kunst zu sein, die nicht so leicht
erlernbar ist in einer Welt, in der alles möglichst nah, möglichst
in Großaufnahme, möglichst unmittelbar zu sein hat.
Dabei wurde in den letzten Jahren
zurecht kritisiert, dass unserem Umgang miteinander oft die Nähe
fehlt, dass es eine störende Angst vor dieser Nähe gibt, die es zu
überwinden gilt, sollen Beziehungen gelingen. Und doch braucht es
dazu ebenso Distanz. Wer einer anderen Person nahe sein will, darf
ihr nicht zu nahe treten; wer zurücktreten kann, eröffnet dem
anderen Raum, sich zu zeigen; wer andere nicht zu überschwemmen
braucht, kann sie erst richtig wahrnehmen.
Die Kunst des Abstands geht aber
über das Verhalten in Beziehungen weit hinaus. Sie ist ein
Teilgebiet der Kunst der Begegnung – nicht nur mit anderen
Menschen, auch mit mir selbst, der Welt und auch mit Gott. Sie ist
weniger haben-wollen als loslassen; weniger machen als sich
beschenken lassen; weniger Selbstdarstellung als Aufmerksamkeit. Sie
bedeutet möglicherweise den Verzicht auf In-sein und Einfluss. Wer
Abstand hält, ist nicht vorne dran – und hat doch die Chance auf
neue Erfahrungen. Wer aber zu schnell unterwegs ist und drängelt,
wird von echten Begegnungen verschont bleiben.
16. Oktober 2001
Kennen Sie Bilder von Monet?
Vielleicht seine berühmten Seerosen oder Bilder der japanischen
Brücke über den Teich in seinem Garten? Erst wenn man diese
Malereien aus einer gewissen Entfernung betrachtet, ordnen sich die
Farbflecken zu einem erkennbaren Bild. Erst aus der Distanz zeigt
sich, was sie zeigen können und zeigen wollen.
Nun gilt das aber nicht nur bei
Impressionisten, sondern eigentlich bei jedem Bild, im Grunde bei
jeder Wahrnehmung. Wer ganz nahe dran ist, sieht ein paar kleine
Farbpartikel oder Striche, sieht jedenfalls nur einen Teil, einen
Ausschnitt. Wer ein Ganzes sehen will, wer Zusammenhänge erkennen
möchte, muss Abstand halten und auf Distanz gehen.
Für spirituelle Menschen ist eine
alte Form dafür, solchen Abstand zu gewinnen, das Gebet; oder sie
vertiefen sich in die Stille, um aus den vielen Details des Lebens
ein ganzes Bild zu erkennen.
Vielleicht hat ja das Gefühl,
dass die Welt so unübersichtlich geworden ist, auch damit zu tun,
dass wir wenig Zeit für solche Kontemplation finden, sondern
täglich laute Nahaufnahmen ins Haus geliefert bekommen. Kamera und
Ton wollen immer ganz nahe dran sein am Geschehen – am Ground Zero
der Ruinen des World Trade Center ebenso wie in den Badezimmern der
Big-brother-Container. Die übers Fernsehen vermittelte Nähe gilt
ebenso den Tränen in der Talkshow wie denen im Flüchtlingslager.
Die komplexen Zusammenhänge unserer Welt sind dagegen viel schwerer
ins Bild zu bringen.
Manchmal würde ich da gerne von
der Welt zurücktreten können, wie von einem Bild von Monet, um zu
sehen, was das Ganze soll, und in dem Wunsch, eine Ordnung zu
erkennen, die den Flecken einen Sinn gibt.
In guten Momenten versuche ich
dann zu beten. Das macht die Welt zwar nicht ordentlicher, aber es
erinnert mich an Gottes weiten Blick, der über die Einzelheiten,
die ich sehe, unendlich hinausgeht.
17. Oktober 2001
Unsere gegenwärtige Kultur preist
das aktive Leben: zugreifen, hingehen, mitmischen, anpacken, dabei
sein, aus sich herausgehen, auf andere zugehen ... Zugleich spricht
man aber auch von einem neuen Biedermeier, vom Rückzug ins Private
mit wenig Interesse an der Gestaltung der Welt.
Viele große Heilige und wichtige
Denker und Denkerinnen der Geschichte haben Wert darauf gelegt, dass
ihre zeitweilige Abkehr von einem nach außen hin aktiven Leben
nichts mit träger Passivität zu tun hatte. Sie trieb nicht
Weltverachtung, sondern Weltverantwortung in die Einsamkeit der
Eremitagen oder der Studierstuben. Erst in der Distanzierung von
alltäglichem oder politischem Tun waren sie fähig, Wesentliches
neu zu erkennen.
Bei mir selbst und bei vielen
anderen sehe ich zurzeit ein großes Bedürfnis nach Rückzug und
nach Abstand zu einer allzu aktiven und Aktivitäten fordernden
Gesellschaft. Da ist eine gewisse Erschöpfung und so mancher Frust;
da ist die Erkenntnis, dass Tätigsein alleine kein ausreichendes
Ziel ist; da ist der Wunsch nach Neuorientierung; da ist die
wachsende Skepsis gegenüber den Verlockungen der Machbarkeit. Ob es
uns gelingt, von der Betriebsamkeit nicht in die Trägheit zu
kippen?
Ziehen wir uns nun zurück mit
Verachtung für eine Welt, die unseren Idealismus nicht zu schätzen
weiß, oder kann es gelingen, statt dessen Abstand zu nehmen, um der
Weisheit des Lebens neu zu begegnen?
Die Erfahrung geistlich und
geistig Geübter sagt uns, dass zeitweiliges Abstand halten nötig
sein kann, um Wesentliches zu erkennen, und dass dabei dann auch die
Welt und unsere Verantwortung uns wieder nahe kommen.
18. Oktober 2001
Die kleine Marie probiert das neue
Spielzeugauto aus. Die beflissene Tante will ihr beispringen und es
ihr zeigen und erklären. "Lass sie", sagt die erfahrene
Mutter – und mir fällt ein: Auch zum Helfen gehört das Abstand
halten. Marie soll ihre eigenen Entdeckungen machen.
Auch beim alten Onkel heißt es
manchmal: warten bis die zittrige Hand das Schlüsselloch getroffen
hat. Ich wäre mit Auf- und Zusperren schneller, aber ich hätte ihm
nicht geholfen, sondern ihn gedemütigt.
Abstand halten in der Begegnung
mit anderen meint nicht Beziehungslosigkeit, sondern im Gegenteil;
es erfordert viel Aufmerksamkeit für die Menschen. Es will Raum
gewähren, in dem die andere sie selbst sein darf; es will Achtung
zeigen, vor dem, was der andere aus sich selbst ist.
Zur Kunst, Abstand zu halten,
gehört dabei auch die Fähigkeit zu einer gewissen Distanz zu sich
selbst. Dann kann ich vielleicht in dem Impuls, dem Kind zu früh
beizuspringen, meinen Wunsch erkennen, mich als groß und stark und
wissend zu erweisen und bewundert zu werden. Oder ich kann in der
Versuchung, selbst schnell die Tür aufzusperren, meine eigene
Nervosität erkennen. Auch ich selbst brauche – auch mir
gegenüber – den Raum, in dem ich sein darf – und nicht alles,
was da zum Vorschein kommt, muss ich dann ausführen. Es kann mir
geschenkt werden, so manches zu lassen.
Abstand zu halten, kann mich so
auch offen machen für eine neue Nähe zu mir selbst und zu anderen
– spürbar im stolzen Lächeln der kleinen Marie, in der
herzlichen Umarmung meines Onkels und im liebevollen Blick auf mich
selbst.
19. Oktober 2001
Wir Menschen sind neugierig. Wir
möchten gerne bescheid wissen, gerade auch über andere Menschen.
Spätestens seit Sigmund Freud wird dabei viel psychologisiert und
ist auch das Interesse an uns selber gestiegen. Von der
Psychotherapie bis zur Ratgeberliteratur reichen die Hilfen, sich
selbst auf die Spur zu kommen, sich selbst und andere besser zu
verstehen. Aus der Fremdheit, die viele nicht nur anderen Menschen,
sondern auch dem eigenen Selbst gegenüber verspüren, kann dabei
wohltuende Nähe werden.
Doch auch hier bin ich überzeugt,
dass es nicht nur auf den Mut ankommt, sich selbst in die tiefsten
Windungen der Seele zu schauen, sondern auch auf die Bereitschaft,
Abstand zu halten.
Denn im Psychologisieren und
Analysieren liegt die Gefahr, nach Macht und Kontrolle über uns
selbst oder über andere zu streben. Dass jeder Mensch letztlich ein
unverfügbares Geheimnis ist, das Respekt einfordert, das kann dabei
in Vergessenheit geraten.
Nicht nur Verständnis ist daher
wichtig und heilsam, auch das Zurücktreten vor dem Unergründlichen
im anderen und in uns selbst. Vielleicht bleibt da dann etwas
stehen, was mich am anderen irritiert; vielleicht bleibt da ein
Stück meiner eigenen Geschichte unbeleuchtet. Beide Male heißt die
Herausforderung: die anderen oder mich selbst schlicht so
anzunehmen, wie sie oder ich geworden sind, wie wir jetzt sind.
Anzunehmen, auch wenn dieses Gewordensein unerklärlich oder
unverstanden bleibt. Das kann Verzicht auf die Neugier erfordern und
Vertrauen in das, was ich nicht kontrolliere. Gute Therapie kann
helfen, sich darin einzuüben.
Vielleicht könnten wir für diese
Mischung aus asketischer Distanz und vertrauensvoller Nähe das alte
Wort von der Ehrfurcht wiedergewinnen?
20. Oktober 2001
Eines der Ziele spiritueller
Übungen ist es, in Gottes Nähe zu kommen, sich Gottes Gegenwart
bewusst zu werden und in ihr auszuharren, Gottes Wegen möglichst
nahe und getreu nachzufolgen. Mag Gott selbst uns auch oft entzogen
und fern erscheinen, gilt das Bemühen doch der Annäherung an Gott.
Hier scheint die Kunst, Abstand zu halten, nicht gefragt zu sein.
Und es wäre ja wirklich vermessen, wenn wir glauben würden, wir
könnten von uns aus zu Gott auf Distanz gehen, wo es doch nicht nur
christliche Grundüberzeugung ist, dass Gott selbst uns immer wieder
von sich aus nahe kommt, immer wieder neu auf uns zu geht, sich uns
Menschen offenbart.
Und doch, gibt es nicht auch Gott
gegenüber eine Haltung, in der wir uns Gott unangemessen
aufdrängen – etwa indem wir von Gott Lösungen und Handlungen
verlangen, die wir doch selbst suchen oder setzen müssten?
Und gibt es nicht auch Gott
gegenüber eine Haltung, in der wir allzu gerne ganz genau wüssten,
wie Gott zu verstehen ist – etwa, um mit Gottes Willen
argumentieren zu können, oder auch nur, um besser abschätzen zu
können, was von diesem Gott zu erwarten ist?
Abstand halten kann hier heißen:
nicht mehr Gottes habhaft werden zu wollen. Wieder sind wir hier bei
so etwas wie Ehrfurcht, einem Zusammenfall von Nähe und Distanz
zugleich. Es heißt wohl zutiefst: darauf zu verzichten, selbst sein
zu wollen wie Gott.
Die Kunst, Abstand zu halten, ist
Teil der Kunst der Begegnung: Sie ist auch Teil der Kunst, in die
sich die einüben, die sich aus der Sünde zu neuem Leben berufen
wissen.
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