Gedanken für den Tag

29. bis 3. 11. 2001, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr

DER ZERSTÖRTE MYTHOS DES WESTENS

von Dr. Roland Steidl, Philosoph und Lehrer am Diakoniewerk Gallneukirchen

 

29.10.: DER WESTEN, DER TERROR UND DIE UMKEHR (I)

 

Sieben Wochen sind seit jenem 11. September 2001 vergangen, der die Welt erschütterte. Wir haben die Bilder der in sich zusammenstürzenden Twin-Towers des World Trade Centers noch in beklemmender Erinnerung. Mehrere Tage lang hielt die Welt den Atem an. Vor mir liegt ein Foto von Manhattan vor dem Terroranschlag. Die Sky-Line aus alten und modernen Wolken- kratzern wird überragt von zwei riesigen Türmen – den Twin-Towers Ich kann mich des Gefühls eines Maßverlusts, ja der Vermessenheit nicht erwehren...

 

Die Twin-Towers des World Trade Center waren ein Symbol. Und sie waren zweifellos als Symbol konzipiert. Sie waren ein heraus- forderndes Symbol, und obendrein ein zentrales Symbol westlichen Selbst- verständnisses, westlicher Weltanschauung.

 

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben grauenhafte Verwüstung angerichtet und viele Menschenleben gekostet. Aber sie haben darüber hinaus dieses Symbol zerstört.

Symbole bringen eine Vielzahl von Bedeutungen verdichtet zum Ausdruck. Sie wirken von der äußeren Ebene der sinnlichen Wahrnehmung tief in die schwer fassbaren Ebenen unserer Seele hinein. Ja, sie bringen etwas zum Ausdruck, war in uns ist.

 

Das heißt im Grunde, dass die Twin-Towers auch in unseren Seelen stehen. Sie repräsentieren Werte und Grundhaltungen unseres Menschseins. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, dass die Terroranschläge vom 11. Septemter 2001 die äußeren Twin- Türme in Schutt und Asche gelegt haben? Was bedeutet es für uns als Menschen, die der westlichen Welt angehören?

 

Diese Art von Fragen müssten uns jetzt die dringlichsten sein. Wir müssten uns aufmachen, um wirklich zu verstehen, was hier – über alle Motive der Terroristen hinaus – tatsächlich geschehen ist. Die Tat der Terroristen ist infam und durch nichts zu rechtfertigen. Das Ergebnis dieser Tat aber ist ein Zeichen.

 

 

30. 10.: DER WESTEN,DER TERROR UND DIE UMKEHR (II)

 

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind ohne Zweifel ein grausamer barbarischer Akt gewesen. Sie hinterlassen uns verängstigt, beunruhigt, ohnmächtig. Das Leben in der westlichen Welt ist viel unsicherer, als wir glaubten.

 

Im Grunde aber haben die Terroranschläge einen Mythos getroffen, einen der mächtigsten Mythen der Weltgeschichte: den Mythos "Amerika". Und dieser Mythos ist in den Seelen zumindest all der Menschen wirksam, die zum sogenannten "Westen" gehören.

Mythen sind Geschichten, die uns den Weg ins Leben zeigen. Der Mythos "Amerika" ist schlicht, aber gerade dadurch umso wirksamer. Verdichtet ist es noch immer die Geschichte vom Tellerwäscher, der zum Multimillionär wird. In diesem Bild spiegeln sich die heimlichen und un-heimlichen Wünsche vieler Menschen.

 

Der Arme und Kleine wird reich und mächtig...

"Do it yourself!" sagt der Mythos. "Du bist wer! Du schaffst es! Die Welt ist die Ressource für deine Pläne, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Setz dich durch! Sei der Bessere, der Schnellere, der Stärkere! Erfüll dir deine Träume – auch die, die in den Himmel wachsen! Das Beste ist gerade gut genug für dich!"

 

Was ist das für ein Menschenbild, was für ein Weltbild? – müssen wir nach dem 11. September 2001 fragen. Menschsein als Konkurrenzkampf, als Recht des Stärkeren?

Sicher ist es ein Menschenbild, dem nur Super-Frauen und Super-Männer genügen. Was aber ist mit all denen, die das nicht schaffen oder schaffen wollen? Was ist mit denen, die andere Bilder von gelingendem Menschsein haben? Werden sie noch wahrgenommen, respektiert, geschützt – in der "Super-,High- und Mega-Welt?" Oder geraten sie ins Out?

 

Die Schattenseite des Mythos "Amerika" ist – bei Menschen, Gruppen, Staaten und Kulturen – wachsende Angst. Angst, überrollt zu werden und nicht mithalten zu können. Angst – und vielleicht sogar Hass.

 

 

31.10.: DER WESTEN, DER TERROR UND DIE UMKEHR (III)

 

In den Stunden und ersten Tagen nach den Terroranschlägen auf World Trade Center und Pentagon warn Entsetzen und Bestürzung über die Tat und die vielen Opfer groß. Vor den Bildschirmen haben Millionen Menschen mitgelitten, mitempfunden, mitgelebt, mitgetrauert.

 

Vielen wurde zudem bewusst, dass niemand vor ähnlichen Katastrophen gefeit ist. Das Bewusstsein unserer Endlichkeit ergriff uns in einer Gesellschaft, die die Endlichkeit seit langem zu verdrängen versucht. Philosophen wie Martin Heidegger oder Nah-Todesforscher wie Raymond Moody und Elisabeth Küblert-Ross machen seit Jahrzehnten auf die "Todesvergessenheit" der modernen westlichen Gesellschaft aufmerksam. Sogyal Rinpoche formuliert das in seinem "Tibetischen Buch vom Leben und dem Sterben" so:

 

"Trotz aller technologischen Errungenschaften besitzt die moderne westliche Zivilisation kein wirliches Verständnis vom Tod, von den Vorgängen beim Sterben oder von dem, was nach dem Tod geschieht."

 

Der Philosoph Peter Heintel vertritt sogar die These, dass die permanente Beschleunigung in unserer Gesellschaft nur zureichend als Flucht vor der Konfrontation mit dem Tod verstanden werden kann. Dement- sprechend kippte unsere Wahrnehmung in den Tagen nach den Terroranschlägen auch sehr schnell um: der schockierte Blick auf die Endlichkeit wechselte urplötzlich – und zwar zu den Börsekursen hinüber.

 

Das heißt: im Grunde sind wir viel zu schnell in den Glauben an unbegrenztes Wirtschaftswachstum zurückgekehrt. Wir haben die Konfrontation mit der Endlichkeit nicht ertragen. Dabei wäre sie heilsam – gerade weil sie die herrschenden Trends und Werte gründlich in Frage stellt.

 

 

2. 11.: DER WESTEN, DER TERROR UND DIE UMKEHR (IV)

 

Mir klingen die Worte des New Yorker Bürger- meisters einige Tage nach den Terroran- schlägen vom 11. September 2001, gesprochen vor der UNO, noch deutlich im Ohr: "We are right, they are wrong!" Die USA, der Westen ist im Recht – die andere Seite ist auf dem völlig falschen Weg.

Nun stimme ich dem zweiten Teil des Satzes mit Blick auf die Terrorangriffe voll und ganz zu: das kann und darf die internationale Staatengemeinschaft nicht dulden. Aber wie ist es mit der berechtigten Kritik am zweifellos einseitigen und für viele ungerechten System der Weltwirtschaft, das unter der Hegemonie des Westens steht?

 

Ist der Westen wirklich "right"?

 

Ist eine Weltanschauung, die auf den Säulen Konkurrenz, Wachstum, Konsum und Macht aufbaut, zukunftsfähig? Ist sie noch "human" zu nennen? Bewährt sie sich an den Grenzen des Wachstums als verant- wortungsfähig gegenüber der Mehrheit der Andersdenkenden, der Schwachen, Armen und Unterdrückten dieser Welt? Bewährt sie sich gegenüber Natur und Umwelt?

Ich verstehe nicht, warum wir angesichts der manifesten Probleme auf dieser Erde noch an dieser Weltanschauung festhalten. Was wir dringend brauchen sind echte Alternativen. Was der Westen in diesem Moment der Weltgeschichte braucht, ist eine zeitgemäße ethisch-spirituelle Neuorientierung, die Konsum und Wachstum pur bewusst bremst.

Dies aber setzt die Bereitschaft zur Umkehr von uns allen voraus.

 

Wir müssen umkehren von der Fixierung aufs wirtschaftliche Wachstum zur Orientierung an seelisch-geistigem Wachstum. Wir brauchen Wege, die aus der Konkurrenz in verantwortliche Verbundenheit führen. Statt unsere Konsummöglichkeiten zu vervielfachen, gilt es, die Qualitäten der Einfachheit wiederzuentdecken. Und statt Einsatz von Gewalt und Macht brauchen wir eine tragfähige Kultur des Dialogs.

 

 

3. 11.: DER WESTEN, DER TERROR UND DIE UMKEHR (V)

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind Verbrechen, aber zugleich auch Zeichen für notwendige Veränderungen in welt- geschichtlichem Maßstab. Sie decken die Schattenseiten unseres westlichen Bildes von Mensch und Welt auf. Diese Schattenseiten zeigen sich nicht nur im Großen, sie zeigen sich auch im Kleinen. Sie zeigen sich in unserer aller Alltag als im Alltag derer, die so zäh an den Leitbildern von Konkurrenz, Wachstum, Konsum und Macht festhalten.

 

Wir erkennen die Schattenseiten heute zunehmend etwa in der um sich greifenden Zerstörung familiärer Beziehungen. Der Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz und um Arbeit verschärft sich.

 

Die beschleunigte Entwicklung in nahezu allen Lebensbereichen lässt kaum mehr Atem- pausen – und damit Zeiten der Besinnung – zu. Der Terror der zu vielen Möglichkeiten macht uns ungeduldig und reizbar: wir wollen stets alles – und das sofort.

 

Im Grunde ist Leben am Limit schon fast der Normalfall. Doch das, was wir suchen, finden wir so nicht. Die Gleichung "mehr Wohlstand ist gleich mehr Glück und Zufriedenheit" ent- puppt sich als Illusion. Weil wir uns unseren Irrtum jedoch nicht eingestehen, degeneriert die berechtigte Suche nach Sinn und Glück in vielen Fällen zur Sucht: Karriere, Arbeit, Alkohol und Nikotin, Sex und Spaß, Reisen...

Doch wie sollen wir diesem Teufelskreis entkommen?

 

Ich glaube, der alles entscheidende Schritt besteht darin, klar zu erkennen, dass die Konsum- und Leistungsgesellschaft nicht hält, was sie verspricht. Wir täuschen uns mit ihr.

 

Diese Erkenntnis können wir nur zulassen und aushalten. Es ist ein Aushalten der Leere, die durch das Alltagsgetriebe immer nur notdürftig verdeckt wird.

Von dieser Leere aber können neue Impulse zur intensiven und erfüllenden Berührung des Lebens ausgehen.