Gedanken für den Tag

05. bis 10. 11. 2001, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr

 

von Mag. Johannes Kaup

 

 

5. November 2001

 

Über das Beten aus dem Schweigen

Vor einigen Jahren war ich einige Wochen in Nord-Norwegen mit Rucksack, Zelt und Schlafsack unterwegs. Allein. Vor mir eine wilde und einsame Landschaft, über mir ein Himmel, kobaltblau. Die einzigen Geräusche machten der Wind und gelegentlich ein Eisvogel. Viele Tage lang habe ich keinen einzigen Menschen getroffen. Ich schwieg. Die ersten Tage waren schwer, ungewohnt. Angst stellt sich ein, dass es nichts mehr gäbe, worüber man nachdenken könnte. Dann fühlte es sich an wie wenn all meine kritischen Urteile, Bedeutungen und Wichtigkeiten wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Ich fühlte mich arm, nackt und ungeschützt. Ich schwieg weiter. Und auf einmal, ich weiß gar nicht wie, löste sich meine Angst. Die Natur fing mit mir zu sprechen an. Natürlich redete sie nicht, aber das Rauschen der Flüsse, die Wellen am See, die Formation der Wolken, das sanfte orangefarbene Licht der Mitternachtssonne – alles sprach mich aus dem Schweigen heraus an. Mir fiel der Apostel Paulus ein, der davon sprach, dass man im Leben sterben müsse, um zu leben. Man muss den äußeren Menschen ablegen, dein kleines Selbst muss sterben, und zugleich beginnt ein größeres zu wachsen.

 

Es ist ein Sterben in der Stille und ein Auferstehen.

 

Du erkennst, dass dies ein Urmodell des Menschseins ist. Du stirbst für die 1000 Nebensächlichkeiten, die du für so wichtig hieltest. Du erwachst zu einer Freiheit und einem größeren Sinn, der Dir aufgeht, wenn Du dich dem Ganz-Anderen aussetzt. Darum, glaube ich geht es letztendlich auch beim Beten: um ein meditatives Leben. Wer in das unauslotbare Schweigen geht und alles loslässt, dem kann sich die Quelle zeigen, in der alles Getrenntsein vergeht.

 

Diese geheimnisvolle Quelle nennen die Glaubenden Gott. Beim Beten aus dem Schweigen geht es darum, die Mitte zu finden. Theresa von Avila sagte dazu: "Gott ist die Mitte unserer Seele".

 

 

6. November 2001

 

Der Himmel ist das Wichtigste

"Oh Lord, won`t you buy me a Mercedes Benz......". So beginnen die Zeilen eines Songs, den Janis Joplin zu einem Meilenstein der Popgeschichte gemacht hat.

 

"Oh Herr, könntest du mir nicht einen Mercedes kaufen". An die Stelle des Autos kann man auch andere begehrenswerte Güter setzen, die sich viele wünschen: einen aufregenden Job, Viel Geld, Anerkennung, einen liebevollen Lebenspartner, tüchtige Kinder ....kurz: alles, wovon wir überzeugt sind, dass es uns – wenn wir es doch nur hätten – wirklich glücklich machen würde. Manche Menschen leben nicht nur so, sie beten auch so. "Lieber Gott, mach dies und jenes, gib mir dies und das, usw... – Man muss kein Psychologe sein, es genügt schon eine aufmerksame Selbstbeobachtung, um zu erkennen, dass erhörte Gebete meist einen schalen Nachgeschmack haben. Es gibt kaum etwas traurigeres, als eine Zukunft, die unseren Vorstellungen haargenau gleicht. Wenn sich unsere Wünsche mit dem decken, was wir erleben, sind wir bald enttäuscht. Geplantes Glück ist nur von kurzer Dauer. Unser Leben wird spannend, wenn unsere Wünsche, Pläne und Vorstellungen durch Unvorhergesehenes durchkreuzt wird. Wir beten oft um Dinge, von denen es ganz unsicher ist, ob sie uns wirklich glücklich machen.

 

Bis heute sind die Worte Jesu eine unannehmbare Provokation, wenn er sagt: "Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und dass ihr etwas anzuziehen habt. Ist das Leben nicht wichtiger als die Nahrung und der Leib nicht wichtiger als eure Kleidung?" – Jesus geht es also um Leib und Leben. Er will nicht zu einer naiv-verantwortungslosen Sorglosigkeit ermuntern. Er will nicht, dass wir den praktischen Lebensbedürfnissen gleichgültig gegenüber stehen. Nein, es geht ihm um Leib und Leben. "Leibhaftig lebendig" ist nämlich derjenige, der absolut darauf vertraut, dass Gott ihn in jedem Augenblick seines Daseins trägt und hält. Vertrauen heißt, das zwanghafte Bedürfnis alles selbst zu kontrollieren und zu regeln, loszulassen. Vertrauen heißt den Schwerpunkt meines Daseins in Gott zu verlegen. Das ist die Freiheit des Christen. Denn um Mercedes Benz und alle anderen praktisch-nützlichen Lebensbedürfnisse geht es den Heiden auch. "Euch aber muss es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gehen – dann wird euch alles andere dazugegeben". Der Himmel also ist das Wichtigste – wer das versteht, wird um Irdisches anders bitten.

 

 

7. November 2001

 

Über die Versuchung der Geschwindigkeit

Autobahn München-Innsbruck. Ich bin auf dem Motorrad unterwegs. Ein trockener sonniger Tag, wenig Verkehr, die Strecke ist schnurgerade. Beste Bedingungen. Die 1000 Kubik verleihen den 98 Pferdestärken meiner Maschine ordentlichen Vortrieb. Mich juckt es in der Gashand. Schauen was geht. Die Tachonadel überschreitet spielerisch die 200er-Marke, der Drehzahlmesser rennt Richtung roter Bereich. Der Wind knattert am Helm. Die wenigen Autos, die rechts von mir brav ihre 120 dahintuckern, wirken wie parkende Blechdosen. Ich bin ein Pfeil, der rasend auf das Nichts zuschießt. Die Nerven sind wie Drahtseile gespannt. Jetzt darf kein Fehler passieren. Mittlerweile bin ich so schnell, das nicht einmal irgendein turbogeladener Schutzengel eine Chance hätte.

Ich habe die Kontrolle über Leben und Tod. Ich fühle mich wie ein kleiner Gott. Ich bin in einem Rausch. Geschwindigkeit ist wie eine Droge, die mich für kurze Zeit vergessen lässt, dass ich nicht Gott bin. Ich bin verletzlich, zerbrechlich – bei einem Aufprall würde es mich jetzt wie eine Fliege zerklatschen. Es wäre aus mit mir, weg und vorbei... Ich drehe den Gasgriff zurück, werde langsamer und fahre auf einen Parkplatz. – Ich mustere meine Maschine von oben bis unten: eine technische Meisterleistung. Die Technik hat etwas faszinierendes. Sie verlängert und vergrößert die Reichweite des Menschen in bisher ungeahnte Bereiche. Aber sie entfremdet auch, dann nämlich, wenn ich vergesse, dass ich nicht Gott bin. Er ist schneller und präsenter als alle Technik – er ist überall schon vor uns da. Vor allen Live-Fernsehberichten, vor der quasi- Echtzeit im Internet und vor dem schnellsten Motorrad. Bevor wir die faszinierenden Errungenschaften von Technik nutzen, müssen wir uns auf das Wesen unseres Menschseins besinnen. Wir können nicht überall sein und das zugleich, wir können nicht alles haben und verdauen. Wenn wir vergessen, dass wir nicht Gott sind, landen wir im Nirgendwo. Dann wird unser Leben zerklatscht wie eine Fliege. Der wahre Gott will, dass wir menschlich leben.

 

 

8. November 2001

 

Lob der Gelassenheit

Was gibt es neues in der Welt? – Wenn wir die Zeitung aufschlagen, Radio hören oder fernsehen, dann scheint es, als ob der permanente Alarmzustand ausgerufen wurde. Ein Attentat hier, ein Krieg dort, – der alltägliche Horror. So manchen beschleicht das Gefühl: Überall lauern Gefahren. Die Welt wird schlechter und unsicherer, ja sie geht den Bach hinunter. Aber ist die Welt tatsächlich schlechter und unsicherer geworden als früher? Mit welcher Zeit wollten wir denn die unsere tauschen? Mit der des antiken Griechenlands? Wo wenige Freie auf Kosten von Tausenden Sklaven lebten? Oder mit dem Mittelalter: einer Zeit, in der Pestepidemien ganze Landstriche Europas entvölkert haben. Oder mit der industriellen Revolution vor zwei Jahrhunderten: als die Arbeiter ausgebeutet wurden und jedes geborene dritte Kind gestorben ist? War das die gute alte Zeit?

 

Heute sind überall Kameras aufgestellt und Mikrophone. Aus den hintersten Winkeln der Welt wird uns das Unglück in die Wohnzimmer transportiert. Das hat sein Gutes und sein Schlechtes. Das Gute besteht darin, dass sich unsere Aufmerksamkeit geschärft hat. So spüren wir global eine zunehmende Verantwortung dafür, dass wir gefährlichen sozialen und politischen Entwicklungen in anderen Teilen der Erde solidarisch entgegenwirken müssen. Es hat aber auch ein Schlechtes. Dann nämlich, wenn wir den winzigen medialen Ausschnitt aus der Weltwirklichkeit für den normalen Zustand der Welt selbst halten. Wenn wir uns verängstigen lassen, zynisch oder mutlos werden, wenn wir uns defensiv gegen alle möglichen und unmöglichen Unglücke versichern und verschanzen. Die Weltsituation war zu keiner Zeit so, dass man in enthusiastischen Jubel hätte ausbrechen wollen. Aber sie ist auch nicht so schlecht, dass man sich permanent miesgelaunten Salondepressiven anzuschließen müsste. - Pessimisten haben einen ähnlichen Sehfehler wie Optimisten. Pessimisten jammern über ein halbleeres Wasserglas. Optimisten sehen nicht, dass dem halbvollen Glas etwas fehlt. Einer der wichtigsten Tugenden, die uns heute fehlt ist die der Gelassenheit. Es sind die aufmerksam Gelassenen, die ein Kind retten, wenn es in einen reißenden Bach fällt. Die Ängstlichen bleiben davor wie angewurzelt stehen und rufen: "Holt denn niemand die Polizei?" Was also ist faul an dieser Welt? – Diese Frage wurde einmal dem begnadeten britischen Essayisten Gilbert Keith Chesterton gestellt. Seine treffende Antwort lautete: "Ich".

 

 

9. November 2001

 

Neue Wege zum Mannsein

Es gibt Männer, die leben nach dem Motto des ehemaligen deutschen Wirtschaftsministers Martin Bangemann: "Die richtige Frau im Haus erspart den Herzschrittmacher" – Nun, darüber mag man denken, wie man will. Die meisten jungen Männer meiner Generation sind jedenfalls nicht mit so einer "richtigen Haus-Frau" liiert. Aber einen Herzschrittmacher, sehen sie auch nicht als vernünftige Alternative. Doch der eingangs zitierte Satz wirft ein bezeichnendes Licht auf die traditionelle Männlichkeit, den Funktions- und Leistungsmann. Er ist oft der Held im Büro, zuhause aber ein trauriger Versager. Ein Mann ohne innere Eigenschaften. Für seine Kinder ist er weitgehend physisch abwesend. Aber was schlimmer ist: auch seelisch fehlt er oft als positive Identifikationsfigur.

 

Vor allem auf die Söhne wirkt sich das negativ aus, weil sie immer mehr an die Mütter fixiert werden. Eine Fixierung, die eine Angst vor dem Leben zur Konsequenz hat. Spontaneität, Entschlusskraft und Verantwortung werden gebremst, Süchte und andere Formen der Abhängigkeit werden so gefördert. Das ist nicht den Frauen persönlich anzulasten, die sich bestmöglich bemühen - es ist eine Folge dieser Situation. Positive Vaterfiguren, an denen sich der junge Mann abarbeiten könnte – sie fehlen. Deshalb sind viele junge Männer so unsicher, weil es so mühevoll für sie geworden ist, Unabhängigkeit, Motivation und Identität zu entwickeln. Mit diesem Erbe belastet gehen sie Beziehungen zu Frauen ein. Und nicht wenige scheitern dann auch.

 

Diese Erfahrungen haben mich gemeinsam mit fünf anderen Männern dazu gebracht eine Männergruppe zu gründen. Gemeinsam sind wir zu einer Suche aufgebrochen nach einer authentischen sozialen, sexuellen und spirituellen Identität als Mann. Ohne uns auf die Wünsche und Hoffnungen von Frauen zu beziehen, lernen wir, wer wir sind und was wir wollen. Unsere Frauen unterstützen uns mittlerweile dabei. Denn sie spüren, dass wir uns mögen, dass wir angstloser geworden sind, dass wir echte Freundschaften gefunden haben. So lernen wir schrittweise ohne Herrschaftsgelüste souveräner, gesünder und demokratischer mit Frauen zu leben. Und wenn unsere Kinder das Wort Vater hören, leuchten ihre Augen wieder. Das, glaube ich, würde vielen Männern einen Herzschrittmacher ersparen.

 

 

10. November 2001

 

Die Postmoderne unter Verdacht

"Ich muss mir selber meine Wahrheit erschaffen. Ich konstruiere mir selbst meinen Lebenssinn und die Welt" – das hat mir kürzlich ein Freund, im Brustton der Überzeugung verkündet. Mein Freund hat sich philosophisch den postmodernen Denkern zugewandt.

 

Die Postmoderne ist - vereinfacht gesagt - eine Reaktion auf den Niedergang der großen menschheitsgeschichtlichen Erzählungen. Zu denen zählte man die politischen Ideologien des 20.Jahrhunderts ebenso wie die Religion. Sie sei heute überholt und am Ende. Demnach gäbe es nichts mehr, was absoluten Wahrheitsgehalt hat. Alles, was uns umgibt, bestünde lediglich aus sozialen und intellektuellen Konstrukten. Nichts also ist demnach gewiss, alles ist zur taxfreien Abwertung und Verdächtigung freigegeben.

 

Doch auch mich beschleicht hier ein Verdacht. Der nämlich, dass so ein Denken bodenlos ist. Ein Haus, dessen Fundamente auf Sand gebaut sind. Für jeden Architekten eine Horrorvision. Übersehen wird dabei nämlich das Sein selbst.

 

Übersehen wird dabei, dass es immer etwas gibt, aufgrund dessen ein Mensch zu einer Konstruktion von etwas überhaupt fähig ist. Und übersehen wird auch, dass auch ein Konstruktivist nicht ohne Glauben auskommt. Zumindest daran, dass das, was er sich konstruiert hat, sinnvoll ist.

 

Ich halte den Glauben demgegenüber für etwas viel ursprünglicheres. Wir bauen uns unsere Beziehungen zu anderen nicht nur darauf auf, was wir voneinander wissen. Würden wir nur auf beweisbare Fakten bauen, dann müssten wir für jede Liebesbeziehung einen omnipräsenten Detektiv engagieren, der nachschnüffelt, weil Vertrauen angeblich nur gut ist, Kontrolle aber besser. Nein, der Glauben aneinander ist die stärkste Bindungskraft, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Weil unsere Eltern an uns geglaubt haben, können wir uns selbst vertrauen. Selbst fehlendes oder enttäuschtes Vertrauen bestätigt als Ausnahme nur stärker die Gültigkeit der Regel. Diese ursprüngliche Glaubenserfahrung macht überhaupt so etwas wie religiösen Glauben möglich. Der Glaube hat Gründe, die in unserer Erfahrung angelegt sind. Der postmoderne Individualist ist arm dran. Um wie viel reicher wäre er, wenn er mehr auf seine ursprüngliche Erfahrung achten würde. Dann könnte ihm nämlich aufgehen, dass es in jedem Augenblick seines Lebens überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Und dass das doch erstaunlich ist...

 

Religiöse Menschen haben dieser Quelle einen Namen gegeben. Sie erfahren, kann man aber nur jenseits aller Konstrukte.