Vor einigen Jahren war ich einige Wochen in
Nord-Norwegen mit Rucksack, Zelt und Schlafsack unterwegs. Allein.
Vor mir eine wilde und einsame Landschaft, über mir ein Himmel,
kobaltblau. Die einzigen Geräusche machten der Wind und
gelegentlich ein Eisvogel. Viele Tage lang habe ich keinen einzigen
Menschen getroffen. Ich schwieg. Die ersten Tage waren schwer,
ungewohnt. Angst stellt sich ein, dass es nichts mehr gäbe,
worüber man nachdenken könnte. Dann fühlte es sich an wie wenn
all meine kritischen Urteile, Bedeutungen und Wichtigkeiten wie ein
Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Ich fühlte mich arm, nackt und
ungeschützt. Ich schwieg weiter. Und auf einmal, ich weiß gar
nicht wie, löste sich meine Angst. Die Natur fing mit mir zu
sprechen an. Natürlich redete sie nicht, aber das Rauschen der
Flüsse, die Wellen am See, die Formation der Wolken, das sanfte
orangefarbene Licht der Mitternachtssonne – alles sprach mich aus
dem Schweigen heraus an. Mir fiel der Apostel Paulus ein, der davon
sprach, dass man im Leben sterben müsse, um zu leben. Man muss den
äußeren Menschen ablegen, dein kleines Selbst muss sterben, und
zugleich beginnt ein größeres zu wachsen.
Es ist ein Sterben in der Stille und ein
Auferstehen.
Du erkennst, dass dies ein Urmodell des
Menschseins ist. Du stirbst für die 1000 Nebensächlichkeiten, die
du für so wichtig hieltest. Du erwachst zu einer Freiheit und einem
größeren Sinn, der Dir aufgeht, wenn Du dich dem Ganz-Anderen
aussetzt. Darum, glaube ich geht es letztendlich auch beim Beten: um
ein meditatives Leben. Wer in das unauslotbare Schweigen geht und
alles loslässt, dem kann sich die Quelle zeigen, in der alles
Getrenntsein vergeht.
Diese geheimnisvolle Quelle nennen die Glaubenden
Gott. Beim Beten aus dem Schweigen geht es darum, die Mitte zu
finden. Theresa von Avila sagte dazu: "Gott ist die Mitte
unserer Seele".
6. November 2001
Der Himmel ist das Wichtigste
"Oh Lord, won`t you buy me a Mercedes
Benz......". So beginnen die Zeilen eines Songs, den Janis
Joplin zu einem Meilenstein der Popgeschichte gemacht hat.
"Oh Herr, könntest du mir nicht einen
Mercedes kaufen". An die Stelle des Autos kann man auch andere
begehrenswerte Güter setzen, die sich viele wünschen: einen
aufregenden Job, Viel Geld, Anerkennung, einen liebevollen
Lebenspartner, tüchtige Kinder ....kurz: alles, wovon wir
überzeugt sind, dass es uns – wenn wir es doch nur hätten –
wirklich glücklich machen würde. Manche Menschen leben nicht nur
so, sie beten auch so. "Lieber Gott, mach dies und jenes, gib
mir dies und das, usw... – Man muss kein Psychologe sein, es
genügt schon eine aufmerksame Selbstbeobachtung, um zu erkennen,
dass erhörte Gebete meist einen schalen Nachgeschmack haben. Es
gibt kaum etwas traurigeres, als eine Zukunft, die unseren
Vorstellungen haargenau gleicht. Wenn sich unsere Wünsche mit dem
decken, was wir erleben, sind wir bald enttäuscht. Geplantes Glück
ist nur von kurzer Dauer. Unser Leben wird spannend, wenn unsere
Wünsche, Pläne und Vorstellungen durch Unvorhergesehenes
durchkreuzt wird. Wir beten oft um Dinge, von denen es ganz unsicher
ist, ob sie uns wirklich glücklich machen.
Bis heute sind die Worte Jesu eine unannehmbare
Provokation, wenn er sagt: "Sorgt euch nicht um euer Leben und
darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und dass ihr
etwas anzuziehen habt. Ist das Leben nicht wichtiger als die Nahrung
und der Leib nicht wichtiger als eure Kleidung?" – Jesus geht
es also um Leib und Leben. Er will nicht zu einer
naiv-verantwortungslosen Sorglosigkeit ermuntern. Er will nicht,
dass wir den praktischen Lebensbedürfnissen gleichgültig
gegenüber stehen. Nein, es geht ihm um Leib und Leben.
"Leibhaftig lebendig" ist nämlich derjenige, der absolut
darauf vertraut, dass Gott ihn in jedem Augenblick seines Daseins
trägt und hält. Vertrauen heißt, das zwanghafte Bedürfnis alles
selbst zu kontrollieren und zu regeln, loszulassen. Vertrauen heißt
den Schwerpunkt meines Daseins in Gott zu verlegen. Das ist die
Freiheit des Christen. Denn um Mercedes Benz und alle anderen
praktisch-nützlichen Lebensbedürfnisse geht es den Heiden auch.
"Euch aber muss es zuerst um das Reich Gottes und seine
Gerechtigkeit gehen – dann wird euch alles andere
dazugegeben". Der Himmel also ist das Wichtigste – wer das
versteht, wird um Irdisches anders bitten.
7. November 2001
Über die Versuchung der Geschwindigkeit
Autobahn München-Innsbruck. Ich bin auf dem
Motorrad unterwegs. Ein trockener sonniger Tag, wenig Verkehr, die
Strecke ist schnurgerade. Beste Bedingungen. Die 1000 Kubik
verleihen den 98 Pferdestärken meiner Maschine ordentlichen
Vortrieb. Mich juckt es in der Gashand. Schauen was geht. Die
Tachonadel überschreitet spielerisch die 200er-Marke, der
Drehzahlmesser rennt Richtung roter Bereich. Der Wind knattert am
Helm. Die wenigen Autos, die rechts von mir brav ihre 120
dahintuckern, wirken wie parkende Blechdosen. Ich bin ein Pfeil, der
rasend auf das Nichts zuschießt. Die Nerven sind wie Drahtseile
gespannt. Jetzt darf kein Fehler passieren. Mittlerweile bin ich so
schnell, das nicht einmal irgendein turbogeladener Schutzengel eine
Chance hätte.
Ich habe die Kontrolle über Leben und Tod. Ich
fühle mich wie ein kleiner Gott. Ich bin in einem Rausch.
Geschwindigkeit ist wie eine Droge, die mich für kurze Zeit
vergessen lässt, dass ich nicht Gott bin. Ich bin verletzlich,
zerbrechlich – bei einem Aufprall würde es mich jetzt wie eine
Fliege zerklatschen. Es wäre aus mit mir, weg und vorbei... Ich
drehe den Gasgriff zurück, werde langsamer und fahre auf einen
Parkplatz. – Ich mustere meine Maschine von oben bis unten: eine
technische Meisterleistung. Die Technik hat etwas faszinierendes.
Sie verlängert und vergrößert die Reichweite des Menschen in
bisher ungeahnte Bereiche. Aber sie entfremdet auch, dann nämlich,
wenn ich vergesse, dass ich nicht Gott bin. Er ist schneller und
präsenter als alle Technik – er ist überall schon vor uns da.
Vor allen Live-Fernsehberichten, vor der quasi- Echtzeit im Internet
und vor dem schnellsten Motorrad. Bevor wir die faszinierenden
Errungenschaften von Technik nutzen, müssen wir uns auf das Wesen
unseres Menschseins besinnen. Wir können nicht überall sein und
das zugleich, wir können nicht alles haben und verdauen. Wenn wir
vergessen, dass wir nicht Gott sind, landen wir im Nirgendwo. Dann
wird unser Leben zerklatscht wie eine Fliege. Der wahre Gott will,
dass wir menschlich leben.
8. November 2001
Lob der Gelassenheit
Was gibt es neues in der Welt? – Wenn wir die
Zeitung aufschlagen, Radio hören oder fernsehen, dann scheint es,
als ob der permanente Alarmzustand ausgerufen wurde. Ein Attentat
hier, ein Krieg dort, – der alltägliche Horror. So manchen
beschleicht das Gefühl: Überall lauern Gefahren. Die Welt wird
schlechter und unsicherer, ja sie geht den Bach hinunter. Aber ist
die Welt tatsächlich schlechter und unsicherer geworden als
früher? Mit welcher Zeit wollten wir denn die unsere tauschen? Mit
der des antiken Griechenlands? Wo wenige Freie auf Kosten von
Tausenden Sklaven lebten? Oder mit dem Mittelalter: einer Zeit, in
der Pestepidemien ganze Landstriche Europas entvölkert haben. Oder
mit der industriellen Revolution vor zwei Jahrhunderten: als die
Arbeiter ausgebeutet wurden und jedes geborene dritte Kind gestorben
ist? War das die gute alte Zeit?
Heute sind überall Kameras aufgestellt und
Mikrophone. Aus den hintersten Winkeln der Welt wird uns das
Unglück in die Wohnzimmer transportiert. Das hat sein Gutes und
sein Schlechtes. Das Gute besteht darin, dass sich unsere
Aufmerksamkeit geschärft hat. So spüren wir global eine zunehmende
Verantwortung dafür, dass wir gefährlichen sozialen und
politischen Entwicklungen in anderen Teilen der Erde solidarisch
entgegenwirken müssen. Es hat aber auch ein Schlechtes. Dann
nämlich, wenn wir den winzigen medialen Ausschnitt aus der
Weltwirklichkeit für den normalen Zustand der Welt selbst halten.
Wenn wir uns verängstigen lassen, zynisch oder mutlos werden, wenn
wir uns defensiv gegen alle möglichen und unmöglichen Unglücke
versichern und verschanzen. Die Weltsituation war zu keiner Zeit so,
dass man in enthusiastischen Jubel hätte ausbrechen wollen. Aber
sie ist auch nicht so schlecht, dass man sich permanent
miesgelaunten Salondepressiven anzuschließen müsste. - Pessimisten
haben einen ähnlichen Sehfehler wie Optimisten. Pessimisten jammern
über ein halbleeres Wasserglas. Optimisten sehen nicht, dass dem
halbvollen Glas etwas fehlt. Einer der wichtigsten Tugenden, die uns
heute fehlt ist die der Gelassenheit. Es sind die aufmerksam
Gelassenen, die ein Kind retten, wenn es in einen reißenden Bach
fällt. Die Ängstlichen bleiben davor wie angewurzelt stehen und
rufen: "Holt denn niemand die Polizei?" Was also ist faul
an dieser Welt? – Diese Frage wurde einmal dem begnadeten
britischen Essayisten Gilbert Keith Chesterton gestellt. Seine
treffende Antwort lautete: "Ich".
9. November 2001
Neue Wege zum Mannsein
Es gibt Männer, die leben nach dem Motto des
ehemaligen deutschen Wirtschaftsministers Martin Bangemann:
"Die richtige Frau im Haus erspart den Herzschrittmacher"
– Nun, darüber mag man denken, wie man will. Die meisten jungen
Männer meiner Generation sind jedenfalls nicht mit so einer
"richtigen Haus-Frau" liiert. Aber einen
Herzschrittmacher, sehen sie auch nicht als vernünftige
Alternative. Doch der eingangs zitierte Satz wirft ein bezeichnendes
Licht auf die traditionelle Männlichkeit, den Funktions- und
Leistungsmann. Er ist oft der Held im Büro, zuhause aber ein
trauriger Versager. Ein Mann ohne innere Eigenschaften. Für seine
Kinder ist er weitgehend physisch abwesend. Aber was schlimmer ist:
auch seelisch fehlt er oft als positive Identifikationsfigur.
Vor allem auf die Söhne wirkt sich das negativ
aus, weil sie immer mehr an die Mütter fixiert werden. Eine
Fixierung, die eine Angst vor dem Leben zur Konsequenz hat.
Spontaneität, Entschlusskraft und Verantwortung werden gebremst,
Süchte und andere Formen der Abhängigkeit werden so gefördert.
Das ist nicht den Frauen persönlich anzulasten, die sich
bestmöglich bemühen - es ist eine Folge dieser Situation. Positive
Vaterfiguren, an denen sich der junge Mann abarbeiten könnte –
sie fehlen. Deshalb sind viele junge Männer so unsicher, weil es so
mühevoll für sie geworden ist, Unabhängigkeit, Motivation und
Identität zu entwickeln. Mit diesem Erbe belastet gehen sie
Beziehungen zu Frauen ein. Und nicht wenige scheitern dann auch.
Diese Erfahrungen haben mich gemeinsam mit fünf
anderen Männern dazu gebracht eine Männergruppe zu gründen.
Gemeinsam sind wir zu einer Suche aufgebrochen nach einer
authentischen sozialen, sexuellen und spirituellen Identität als
Mann. Ohne uns auf die Wünsche und Hoffnungen von Frauen zu
beziehen, lernen wir, wer wir sind und was wir wollen. Unsere Frauen
unterstützen uns mittlerweile dabei. Denn sie spüren, dass wir uns
mögen, dass wir angstloser geworden sind, dass wir echte
Freundschaften gefunden haben. So lernen wir schrittweise ohne
Herrschaftsgelüste souveräner, gesünder und demokratischer mit
Frauen zu leben. Und wenn unsere Kinder das Wort Vater hören,
leuchten ihre Augen wieder. Das, glaube ich, würde vielen Männern
einen Herzschrittmacher ersparen.
10. November 2001
Die Postmoderne unter Verdacht
"Ich muss mir selber meine Wahrheit
erschaffen. Ich konstruiere mir selbst meinen Lebenssinn und die
Welt" – das hat mir kürzlich ein Freund, im Brustton der
Überzeugung verkündet. Mein Freund hat sich philosophisch den
postmodernen Denkern zugewandt.
Die Postmoderne ist - vereinfacht gesagt - eine
Reaktion auf den Niedergang der großen menschheitsgeschichtlichen
Erzählungen. Zu denen zählte man die politischen Ideologien des
20.Jahrhunderts ebenso wie die Religion. Sie sei heute überholt und
am Ende. Demnach gäbe es nichts mehr, was absoluten Wahrheitsgehalt
hat. Alles, was uns umgibt, bestünde lediglich aus sozialen und
intellektuellen Konstrukten. Nichts also ist demnach gewiss, alles
ist zur taxfreien Abwertung und Verdächtigung freigegeben.
Doch auch mich beschleicht hier ein Verdacht. Der
nämlich, dass so ein Denken bodenlos ist. Ein Haus, dessen
Fundamente auf Sand gebaut sind. Für jeden Architekten eine
Horrorvision. Übersehen wird dabei nämlich das Sein selbst.
Übersehen wird dabei, dass es immer etwas gibt,
aufgrund dessen ein Mensch zu einer Konstruktion von etwas
überhaupt fähig ist. Und übersehen wird auch, dass auch ein
Konstruktivist nicht ohne Glauben auskommt. Zumindest daran, dass
das, was er sich konstruiert hat, sinnvoll ist.
Ich halte den Glauben demgegenüber für etwas
viel ursprünglicheres. Wir bauen uns unsere Beziehungen zu anderen
nicht nur darauf auf, was wir voneinander wissen. Würden wir nur
auf beweisbare Fakten bauen, dann müssten wir für jede
Liebesbeziehung einen omnipräsenten Detektiv engagieren, der
nachschnüffelt, weil Vertrauen angeblich nur gut ist, Kontrolle
aber besser. Nein, der Glauben aneinander ist die stärkste
Bindungskraft, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Weil unsere
Eltern an uns geglaubt haben, können wir uns selbst vertrauen.
Selbst fehlendes oder enttäuschtes Vertrauen bestätigt als
Ausnahme nur stärker die Gültigkeit der Regel. Diese
ursprüngliche Glaubenserfahrung macht überhaupt so etwas wie
religiösen Glauben möglich. Der Glaube hat Gründe, die in unserer
Erfahrung angelegt sind. Der postmoderne Individualist ist arm dran.
Um wie viel reicher wäre er, wenn er mehr auf seine ursprüngliche
Erfahrung achten würde. Dann könnte ihm nämlich aufgehen, dass es
in jedem Augenblick seines Lebens überhaupt etwas gibt und nicht
vielmehr nichts. Und dass das doch erstaunlich ist...
Religiöse Menschen haben dieser Quelle einen
Namen gegeben. Sie erfahren, kann man aber nur jenseits aller
Konstrukte.