Gedanken für den Tag
12. bis 17. November 2001, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr
WIE MAN FRIEDEN MACHT
Von Hildegard Goss-Mayr
12. November 2001: Die Sicht des Anderen
Sind wir unausweichlich gefangen in der Spirale
der Gewalt? Lange vom wohlhabenden Norden missachtete Völker
beginnen sich zu wehren. Extremisten setzen das Signal durch blutige
Terroranschläge. Der Norden schlägt mit Militärgewalt zurück.
Feindbilder werden mächtig, auch in unserem Land.
Nur friedenschaffende Initiativen können diese
Todesspirale durchbrechen. Als Erstes gilt es zu fragen: Wie sehe
ich den Andern, den Fremden, den Gegner?
Kürzlich bei einem Besuch in Israel lud mich eine
Friedensgruppe zu einem Gespräch mit Juden, Christen und Muslimen
ein. Die intime Atmosphäre erlaubte es den Araberinnen, ihr Herz zu
öffnen und das Leid erlittener Verletzungen herauszuschreien: Als
Kinder lebten wir Christen in guter Nachbarschaft mit Muslimen und
Juden. Doch dann begannen jüdische Kinder uns zu beschimpfen und
fortzujagen: Und so ging es weiter, immer und überall verachtet,
verletzt, ausgegrenzt.
Eine jüdische Aktivistin entgegnete vehement:
Meine Familie war Opfer des Holocaust. Viele von uns leben auch
heute in Angst. Ich wurde im Anspruch auf das ganze Land erzogen.
Doch der Libanonkrieg und seine Toten öffnete mir die Augen für
die Wahrheit, dass Gott Gerechtigkeit für alle Bewohner dieses
Landes, für Juden und Araber fordert. Seither kämpfe ich für ein
Ende der Gewalt, aber ich bin sehr allein.
Heilende Tränen wurden geweint: Die Jüdin und
die Araberin fanden tiefe Verbundenheit in dem gemeinsamen Ringen um
Leben in Gerechtigkeit für alle. Die Begegnung half ihnen, ihre
Bitterkeit und Frustration in Kraft zum Einsatz für Frieden zu
verwandeln.
Tausende solcher Räume der Begegnung mit dem
"Andern", mit dem Gegner, müssen geschaffen werden –
auch bei uns.
13. November 2001 : Lubumbashi:
Christen und Muslime durchbrechen ethnische Gewalt
Lubumbashi, in der Demokratischen Republik Kongo
(Früher Zaire) gelegen, ist eine Bergbaustadt. Die Möglichkeit,
Arbeit zu finden, zog Tausende aus der Nachbarprovinz an. Als in den
90er Jahren unter der Diktatur Mobutus der Kupferabbau
zusammenbrach, beschloss der Gouverneur die "Zugezogenen",
die einer fremden ethnischen Gruppe angehörten, zu vertreiben.
Man hetzte die ethnischen Gruppen gegeneinander
auf. Grausame Massaker waren zu befürchten. Da
beschloss die kleine gewaltfreie Gruppe Ganve, mit Mitgliedern aus
beiden ethnischen Gruppen, zu handeln. Sie suchten christliche und
muslimische religiöse Verantwortliche auf und erreichten, dass
diese in einem öffentlichen inter-religiösen Gebet vor den
zahlreich versammelten Menschen bezeugten: Gott, Allah, der
Barmherzige, ist Schöpfer aller Menschen. Er schützt alle und
verlangt, dass Recht auf Leben und Würde aller gesichert werden.
Ermutigt durch diese moralische Unterstützung,
zog Ganve in einem gewaltfreien Marsch mit Menschen beider
Religionen und ethnischen Gruppen zu den am Stadtrand gelegenen
Feldern. Diese hatte das Militär besetzt. Gemeinsam begannen sie,
den Boden zu bebauen, um ihre Familien vor dem Hungertod zu retten.
Die Soldaten, selbst Söhne armer, hungernder Familien, gaben
schließlich die Felder frei.
Die gemeinsame Arbeit ließ die Betroffenen ihre
gleichen Bedürfnisse und Nöte erkennen. Die künstlich aufgebauten
Feindbilder zerbrachen und langsam konnte neues Vertrauen aufgebaut
werden. Der Funke der Versöhnung erfasste die ganze Region.
Massaker und Vertreibung konnten durch diese gewaltfreie Initiative
der Armen verhindert werden.
14. Novmeber 2001: Gewaltfreie
Worte: Ein Fundament für Friedenspolitik
Im August 1984 wurde der philippinische Senator
Ninoy Aquino, demokratischer Oppositionsführer gegen die Diktatur
von Präsident Marcos, am Flugplatz von Manila erschossen. Sein Tod
half Hunderttausenden sich aus der Angst vor Repression zu befreien.
Eine breite, gewaltfreie Volksbewegung brach auf, die schließlich
den Präsidenten zwang, Wahlen durchzuführen.
Die Bevölkerung drängte Cory Aquino, die Witwe
des ermordeten Senators, sich als Oppositionskandidatin der Wahl zu
stellen: Die Machtverhältnisse waren jedoch völlig ungleich.
Im Laufe des Wahlkampfes wurde ein enger
Mitarbeiter Cory´s, ein Provinzpräfekt, ermordet: Der Schrei
"Marcos Mörder" brach auf: Emotionale Racheakte, eine
Welle der Gewalt waren zu befürchten.
Mein Mann und ich arbeiteten zu diesem Zeitpunkt
als Berater für gewaltfreien Widerstand in den Philippinen. Wir
suchten Cory Aquino auf: "Sagen sie nicht, der Präfekt wurde
ermordet: Hat er sich nicht freiwillig und im Bewusstsein des
Risikos ihrer Kampagne zur Verfügung gestellt? Sagen sie vielmehr,
dass er sein Leben freiwillig hingab für eine gerechtere und
demokratische Zukunft des Volkes. Nur so durchbrechen sie die
Spirale der Gewalt und verleihen ihrer Kampagne eine
menschenwürdige Qualität.
Cory Aquino befolgte den Rat. Orientiert durch
zivile und religiöse Gruppen, optierte das Volk für den
gewaltfreien Weg. Wenige Wochen später überwand "People
Power" durch Millionen Demonstranten gewaltfrei die Diktatur.
Ein erster bescheidener, doch wesentlicher Schritt auf dem Weg zu
einer gerechteren Gesellschaft war gesetzt.
Worte transportieren Inhalte und Werte: Sie sind
untrennbar mit dem angestrebten Ziel verbunden. Wie wesentlich ist
es, in unserer gegenwärtigen Situation darauf zu achten.
15. Novmeber 2001: Zu
Gewaltfreiheit erziehen
Nafez Assaily ist palästinensischer Muslim. Seit
1986 reist er mit seiner "Friedens- bibliothek" durch das
Westjordanland, Gaza, Jerusalem und Hebron. An über hundert Orten
lehrt er Kindern und Jugendlichen Gewalt- freiheit durch
Friedensliteratur, Rollenspiele, Marionetten. Er hilft ihnen, den
Reflex der Vergeltung zu überwinden: Statt Steine auf Gegner zu
werfen, kann man damit Häuser reparieren oder sie bemalen, um damit
Freunde zu gewinnen. Er zeigt Jugendlichen auf, was Koran und Bibel
gemeinsam ist, erzählt Geschichten von Völkern, die sich aus Leid
und Unterdrückung gewaltlos befreit haben. Er hilft ihnen zu
lernen, ihre eignen Konflikte friedlich zu schlichten.
Durch die gegenwärtige militärische Abriegelung
der Palästinensergebiete ist er gezwungen, seine Arbeit auf Hebron
zu beschränken. Den durch die täglichen Kämpfe traumatisierten
Kindern der Altstadt zeigt er durch sein Beispiel, dass es Güte,
Vertrauen, Zuwendung, Gerechtigkeit und Vergebung gibt, die das
Leben schön und liebenswert machen. Nafez sagt: Es ist besser, eine
Kerze anzuzünden, als die Finsternis zu verdammen.
Kindern und Jugendlichen die Kraft der
Gewaltfreiheit zu lehren und sie so zu befähigen am Aufbau einer
gerechteren und friedlicheren Welt mitzuwirken, ist Zielsetzung der
von der UNO ausgerufenen Dekade für "eine Kultur des Friedens
und der Gewaltfreiheit für die Kinder der Welt." Mit dieser
Zielsetzung hat sich auch in Österreich ein Netzwerk von rund 30
Vereinigungen gebildet. Es veranstaltet seit 12. November eine
Friedenswoche, in deren Verlauf zahlreiche Friedensinitiativen von
Kindern, Jugendlichen und Schulen vorgestellt werden. Besuchen sie
die Webseite: www.kids-forum.org/friedenswoche
16. November 200: Larzac: Die Kraft der
Gewaltfreiheit ent-decken
Zu den ermutigendsten Erlebnissen der Friedensarbeit
gehört es, die in jedem Menschen grundgelegte, doch meist
verborgene Kraft der Gewaltfreiheit bewusst zu machen und zu
entfalten.
Zu Beginn der 70er Jahre sollte im Larzac im
französischen Zentralplateau auf 17.000 ha Land ein
Truppenübungsplatz errichtet werden. Nach eingehender Überlegung
beschlossen die 103 von Enteignung betroffenen Bauern, Schafzüchter
und Produzenten des berühmten Roquefort-Käses, ihren Boden nicht
zur Verfügung zu stellen und entschlossen sich zu gewaltfreiem
Widerstand:
Zunächst angsterfüllt und sehr vorsichtig,
entdeckten sie bald die moralische Kraft der Wahrheit, die sie
vertraten: Der Boden ist ein Geschenk and die Menschheit um sie zu
ernähren, nicht um Töten zu lehren.
Um Solidarität zur Rettung des Larzac zu
erreichen, brachten sie zu ihrer ersten Pressenkonferenz Schafe
unter den Eifelturm, später fuhren sie mit ihren Traktoren 800 km
nach Paris, um ein Gespräch mit dem Verteidigungsminister
durchzusetzen:
Im Sommer 1973 organisierten sie die erste
Massendemonstration: 60.000 Bauern, Arbeiter, Studenten und
Intellektuelle, die sich zu GF Verhalten verpflichtet hatten, kamen
in den Larcaz. Und das war das Bewegendste dieses Tages: Eine
einfache Bäuerin, Mutter von sechs Kindern, hielt das Hauptreferat
und bezeugte, dass Frieden in der Welt nur wachsen könne, wenn die
Güter der Erde für das Leben aller erzeugt und geteilt werden. Ihr
Einsatz hatte ihre besten, verborgenen Kräfte mobilisiert:
Acht Jahre kämpften die Bauern des Larcaz unter
großen Opfern gegen die rüstungs- orientierten militärischen
Kräfte ihres Landes, bis 1980 Präsident Mitterand mit Amtsantritt
das Enteignungsdekret zurückzog.
Heute befindet sich im Larcaz das größte
französische Schulungszentrum für Gewaltfreiheit, in dem vor allem
zahlreiche Menschen aus der Dritten Welt diese befreiende Kraft der
Schwachen kennen lernen.
17. Novmeber 2001: Vergebung
schafft neues Leben
In einer Kleinstadt in Nordfrankreich wird ein
13jähriges Kind ermordet. Die Untersuchungen ergeben bald: Der
Mörder ist ein Schul- kamerad. Die von dem Verlust ihres Sohnes
schwer getroffenen Eltern ringen darum, nicht aus Bitterkeit dem
Wunsch nach Vergeltung Raum zu geben. Sie versuchen, sich in die
Situation der Eltern des jungen Mörders zu versetzen und gelangen
zu der Überzeugung, dass es leichter ist, Eltern des Opfers zu
sein, als Eltern des Täters:
Sie beschließen, die Eltern des jungen Mörders
aufzusuchen, versuchen deutlich zu machen, dass in einer
Gesellschaft, die das Töten banalisiert, alle Kinder gefährdet
sind und deshalb alle gemeinsam Verantwortung tragen.
Durch diesen Schritt befreien sie die Eltern des
Täters aus der Situation von Scham und Ausgrenzung. Ein Komitee aus
Lehrern, Eltern, Sozial- und Pastoralarbeitern wird gebildet, das
gemeinsam überlegt, wie dem jungen Täter geholfen werden kann.
Geschockt durch dieses dramatische Ereignis
beginnen mehrere Gruppen in der Stadt Zentren für Jugendarbeit zu
errichten.
Die Eltern des getöteten Kindes werden den
Verlust nie vergessen: Doch aus ihrer Bereitschaft zur Vergebung
konnte sich neues Leben entfalten: Für sie selbst, für den jungen
Täter und dessen Eltern und für Jugendliche der Stadt.
Als Christen sind wir gefordert, Pioniere von
Vergebung und Versöhnung zu sein, weil wir aus der Gewissheit
leben, dass Gott uns bedingungslos liebt und uns immer neu vergibt
in Leben und Tod, in Glück wie in Schuld.
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