"Vom Königrufen" – Die verborgene
Botschaft des Tarock
von Oberkirchenrat Dr. Michael Bünker
Montag, 26. 11. 2001
Vom Königrufen – das passt wohl in eine Woche,
die auf den ersten Advent zugeht, den Sonntag, an dem die
Christinnen und Christen ihren König erwarten und rufen: Macht hoch
die Tür, die Tor macht weit. Aber wie hängt das mit dem
Tarockieren zusammen? Einem Kartenspiel?
Die Idee, dass die ganze Welt nichts anderes sei,
als ein Spiel, ist alt. Schon der dunkle Heraklit hat den Weltlauf
mit einem spielenden Kind verglichen, das die Steine einmal hierhin
und einmal dahin setzt. Die Welt, das Leben als Spiel. Das heißt
nicht, dass es immer lustig ist. Es gibt auch ernstes Spiel,
grausames Spiel, ja sogar heiliges Spiel.
Wichtig ist die Dialektik zwischen den festen
Regeln und den eigenen freien Entscheidungen, zwischen dem Geplanten
und dem Zufälligen, zwischen dem eigenen Tun und dem Pech
beziehungsweise dem Glück.
Wenn das Spiel ein Symbol ist für die Welt, kann
es auch ein Kartenspiel sein? Umberto Eco meint ja und vergleicht
die Welt mit dem Pokern. Großer Einsatz und Risiko, und oft nichts
dahinter, riesige Gewinne, katastrophale Verluste. "Die Herren
pokern um die Welt", singt Konstantin Wecker und die Zustände
in Politik und Wirtschaft erinnern ja häufig genug daran.
Jostein Garder hingegen – mein zweites Beispiel
- hat die Welt mit einer Patience verglichen. Aus dem anfänglichen
Chaos muss Ordnung werden durch geduldiges und beharrliches
Arbeiten, also eine Art Schöpfung der Welt, weil ja auch Gott aus
dem anfänglichen Tohuwabohu in sieben Tagen einen Kosmos, eine
gestaltete Ordnung machte.
Ich schlage für diese Woche vor, die Welt mit dem
Tarockspiel zu vergleichen.
Es war Fritz von Herzmanovsky Orlando, der
Österreich als Tarockanien bezeichnet hat. Die Verfassung dieses
wunderlichen Landes entspricht den Spielregeln des Tarock, der
oberste Herrscher heißt "Sküs", wie die höchste Karte
des Tarock und so weiter.
Der Mensch ist dazu gemacht, ein Spiel Gottes zu
sein. Ein schönes, altes Spiel wie das Tarockieren kann daran
erinnern.
Dienstag, 27. 11. 2001
Gibt es beim Tarockieren eine religiöse
Tiefenschicht?
Als Erstes möchte ich einen seltsamen Umstand
erwähnen. Es ist ja bekannt, dass die meisten, ja fast alle Spiele,
die in einer Runde gespielt werden, im Uhrzeigersinn verlaufen. Dem
links von mir sitzenden Mitspieler teile ich aus, nach dem rechts
Sitzenden komme ich dran.
Der Uhrzeigersinn ist eine Erinnerung daran, dass
es vor den mechanischen nur die Sonnenuhren gab. Auf der nördlichen
Erdhalbkugel läuft der Schatten der Sonnenuhr im Sinne des heutigen
Uhrzeigers, der so ständig daran erinnert, dass die Zeit vergeht.
Und wenn nun auch beim Spiel dieser Uhrzeigersinn eingehalten wird,
dann bedeutet das, dass das Spiel keine Ausnahme vom allgemeinen
Weltlauf darstellt.
Die Zeit vergeht. Wie in der Sanduhr verströmt
und verrinnt sie, bis alles Vergangenheit ist und die Zukunft zu
einem Nichts entleert. Das Beste, was Menschen unter diesem Aspekt
von Vergänglichkeit vom Spiel sagen können ist, dass die Zeit
stehen bleibt oder dass sie wie im Flug vergangen ist. Wie anders
aber beim Tarock!
Beim Tarockieren wird nicht nur gegen den
Uhrzeiger gegeben, sondern auch gespielt! Ist die Ursache dafür die
Erinnerung an die jüdischen Wurzeln dieses Spieles, wie auf der
berühmten Uhr im Prager Ghetto, an der die Zeiger für Nichtjuden
verkehrt herum laufen wie die Buchstaben in der hebräischen
Schrift?
Aber vielleicht ist es auch ein Hinweis darauf,
dass es sich bei Tarock um ein außergewöhnliches Spiel handelt,
bei dem in jeder Runde und mit jedem Ausspiel das Rad der Zeit
zurück- gedreht wird. Das wäre natürlich ein unerhörter Gedanke,
wenn es wirklich so ein Spiel gäbe, bei dem der Lauf der Zeit
rückgängig gemacht würde.
Dann würde Tarockieren jünger machen, wie sonst
nur das Warten auf Gott, wie es in einem adventlichen Bibeltext
heißt (Jesaja 40, 30):
Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass
sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt
werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Mittwoch, 28. 11. 2001
Tarock ist ein sehr altes Spiel. Nach heutigem
Wissensstand sind die Kartenspiele so um 1320 in Europa aufgekommen,
zuerst in Italien. Gleich darauf wurden sie von der Kirche verboten,
was – wie alles Verbotene - zu ihrer Verbreitung stark beigetragen
haben dürfte. Das Besondere des Tarock ist, dass zu den klassischen
Kartenfiguren, König, Reiter, Dame, Bube in den vier bekannten
Farben Herz, Pik, Kreuz und Karo noch jene geheimnisvollen "Tarrocchi"
kommen.
22 Karten, nummeriert mit römischen Ziffern, drei
davon mit sehr bekannten Namen. Der Mond, der Sküs und der Pagat.
Diese "Tarrocchi", die Tarock, sind spezielle Trümpfe,
die die Verwandtschaft mit den Karten des Tarot erkennen lassen, den
alten esoterischen Karten des Weissagens.
Die Herkunft dieser geheimnisvollen Karten dürfte
weit vor dem 14. Jahrhundert gelegen haben, ob es wirklich schon die
alten Ägypter waren, wie die Legende behauptet, wer kann es schon
genau wissen. Nun drücken die vier Farben nichts anderes aus als
die vier Elemente, aus denen alles besteht, oder die vier Himmels-
richtungen, aus denen alles kommt. Am Kartentisch ist also alles
versammelt, was es gibt auf der weiten Welt.
Ein kleiner Kosmos in sich, ein Weltmodell. Aber
was sind die 22 Tarock? Ihre Herkunft wird auf jüdische Wurzeln
zurückgeführt, sie stellen die 22 Buchstaben des hebräischen
Alphabets dar und jeder Buchstabe ist eine Zahl, Pagat, der Einser,
wäre Aleph, und der Sküs, Nummer 22, wäre Tau, das Ende und
Nichts, in das die Dinge gehen. Zur Welt wie sie ist –
symbolisiert durch die Zahl Vier – kommt die Botschaft eines
unsichtbaren Gottes, der die Welt nicht so lässt, wie sie ist,
sondern sie verändert auf ein Reich des Friedens und der
Gerechtigkeit hin.
So begegnet an jedem Tarocktisch die
jüdisch-christliche Tradition und jeder Stich mit Tarock über
Herz, Karo, Kreuz oder Pik stärkt das adventlichte Verlangen nach
dem messianischen Reich des Friedens.
Donnerstag, 29.11.2001
Zu viert ist die Runde beim Tarock.
Freilich gibt es auch Varianten für drei, ja
sogar für zwei Spieler und Spielerinnen.
Aber das sind Notlösungen, die nicht die ganze
Fülle der verschiedenen Spiele beim Tarock zulassen. Die Vier ist
die Zahl der irdischen Verhältnisse und meistens geht es auch beim
Tarockieren so zu, wie es eben auf Erden zugeht: Einer hat alles,
die anderen nichts. Oder zumindest wenig. Die Zufälligkeit des
Spieles und des Kartenglücks spiegelt die Ungerechtigkeit der Welt.
Im Evangelium sagt Jesus dazu bitter: Wer hat, dem
wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird auch das noch genommen
(Matthäus 13,12; 25,29). Ist das ein unveränderliches Schicksal?
Können sich die wehren, die nichts haben? In Tarockanien können
sie es: Sie spielen ein negatives Spiel. Bettler oder Pikkolo.
Und schon ist alles umgekehrt. Plötzlich sind die
im Vorteil, die nichts haben. Und die, die alles in Händen halten,
sind gefährdet. So eine Umkehr der Verhältnisse, so eine
Revolution, würde unsere Welt wohl brauchen!
Das Tarockspiel nimmt sie vorweg, spielerisch. Und
ganz besonders herausfordernd ist es, wenn diese negativen Spiele
der Habenichtse auch noch offen, ouvert, gespielt werden.
Mit offenen Karten! Karten auf den Tisch! Wer
nichts hat, kann alles herzeigen, braucht nichts verstecken hinter
anonymen Konten und getönten Scheiben. Die Botschaft, dass
Verlierer und Habenichtse gewinnen und dass Niederlagen letztlich
der Sieg sind, erinnert an Jesus, seine Lehre, sein Leben und sein
Werk. Das Kreuz als Siegeszeichen für Habenichtse und Verlierer auf
dieser Welt. Das negative Spiel Gottes mit den
Unrechtsverhältnissen, offen gespielt.
Charles Peguy hat das genannt: qui perd gagne –
der Verlierer gewinnt.
Freitag, 30. 11. 2001
Ein besonderes Gewicht legt das Tarockspiel auf
die letzten Karten. Es sind insgesamt 54 Karten im Spiel, 32 in den
vier Farben und dazu die 22 Tarock. Jeder Spieler, jede Spielerin
erhält zwölf Karten, natürlich zwölf, die heilige Zahl und
zweimal drei Karten liegen im Talon. Oft plätschert ein Spiel am
Anfang so dahin, Runde um Runde und dann stellt sich heraus, dass
mit den letzten vier Karten die Entscheidungen fallen werden.
Nun besteht die Kunst darin, diese Betonung der
letzten Karten auch zu planen und bewusst anzustreben. Am
schwierigsten ist der viertletzte Stich mit dem Tarockvierer, dieses
Kunststück heißt Quapil, dann der drittletzte mit dem Dreier, das
ist der Pelikan, Kakadu oder Kanari, der vorletzte mit dem Zweier,
dem Uhu und schließlich am bekanntesten, der letzte Stich mit dem
Einsertarock, dem Pagat, "il bagatto", der Gaukler. Also
der Pagat ultimo! Ultimo!
Im Geschäftsleben und Geldverkehr ein schlimmes,
meist Unheil verkündigendes Wort, aber beim Tarockieren etwas ganz
Besonderes und Herausforderndes. Was ist ein Pagat ultimo anderes
als die spielerische Verwirklichung der Hoffnung der Evangelien,
dass die Ersten die Letzten sein werden, die Letzten hingegen die
Ersten. Es ist deshalb kein Wunder, dass es in Österreich im
Revolutionsjahr 1848 einen eigenen Konstitutionstarock gegeben hat,
wo auf den Karten die Parolen der Revolution abgedruckt waren.
Ein gefährliches Spiel! Es bestärkt den
Eindruck, dass dieses Spiel quer zu den üblichen Welt- und Lebens-
erfahrungen der Menschen steht und nicht den Alltag überhöhen,
heiligen oder absegnen will, sondern ein Gegenmodell zu ihm
darstellt.
Jene Umkehrung der bestehenden Verhältnisse, von
denen gerade die adventliche Hoffnung voll ist, wie Maria in ihrem
Loblied singt: Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die
Niedrigen (Lukas 1,52)
Samstag, 1. 12. 2001
Das Herzstück des Tarock zu viert ist das
Königrufen. Wer das Spiel ersteigert hat, hat das Recht einen
Partner oder eine Partnerin zu rufen, indem er einen König nennt.
Wer von den anderen dreien diesen König im Blatt hält, spielt nun
mit dem Rufer gegen die beiden anderen. Die beiden binden sich
aneinander, ohne sich zu kennen, ohne voneinander zu wissen.
Der gerufene König wird ins Geschick
hineingezogen, im Guten wie im Schlechten. Er darf sich aber nicht
gleich zu erkennen geben, erst im Laufe des Spieles stellt sich
heraus, wer es ist. Am schönsten, wenn der gerufene König erst
beim letzten Ausspiel herauskommt und sich offenbart, ein König
ultimo! Beim Königrufen enthüllt sich die religiöse und
christliche Tiefendimension des Tarock am klarsten. Hier wird
nämlich etwas über das Verständnis des Glaubens sichtbar, wie es
sich in den biblischen Überlieferungen findet.
Als erstes die Botschaft. Du musst es nicht
alleine machen, rufe dir einen König, auch wenn du ihn nicht kennen
solltest. Dann als zweites: Sei nicht ungeduldig, wenn du lange,
lange nichts von deinem König merkst. Er ist da und auf deiner
Seite, ja sogar dann, wenn er sich erst ganz am Schluss offenbart,
wenn schon alles vorbei zu sein scheint. Und drittens: Dein
gerufener König identifiziert sich ganz und gar mit deinem Geschick
und Leben. Ohne jedes Wenn und Aber. Er kommt nicht, um über dich
zu herrschen, sondern als dein Partner.
Ich meine, dass diese Haltungen etwas Adventliches
haben: In die Dunkelheit und Wirrnis der Welt hinein den König zu
rufen, auf sein Kommen zu vertrauen und sich dann darauf zu
verlassen, dass er da ist, egal, wie die Karten fallen. Wie es beim
Propheten Sacharja verheißen ist: Siehe, dein König kommt zu dir,
ein Gerechter und ein Helfer. Er wird die Kriegsbögen zerbrechen
und den Völkern Frieden gebieten