Gedanken für den Tag

26. 11. bis 1. 12. 2001, 
6.57 Uhr - 7.00 Uhr

"Vom Königrufen" – Die verborgene Botschaft des Tarock

von Oberkirchenrat Dr. Michael Bünker

 

 

Montag, 26. 11. 2001

 

Vom Königrufen – das passt wohl in eine Woche, die auf den ersten Advent zugeht, den Sonntag, an dem die Christinnen und Christen ihren König erwarten und rufen: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Aber wie hängt das mit dem Tarockieren zusammen? Einem Kartenspiel?

 

Die Idee, dass die ganze Welt nichts anderes sei, als ein Spiel, ist alt. Schon der dunkle Heraklit hat den Weltlauf mit einem spielenden Kind verglichen, das die Steine einmal hierhin und einmal dahin setzt. Die Welt, das Leben als Spiel. Das heißt nicht, dass es immer lustig ist. Es gibt auch ernstes Spiel, grausames Spiel, ja sogar heiliges Spiel.

 

Wichtig ist die Dialektik zwischen den festen Regeln und den eigenen freien Entscheidungen, zwischen dem Geplanten und dem Zufälligen, zwischen dem eigenen Tun und dem Pech beziehungsweise dem Glück.

 

Wenn das Spiel ein Symbol ist für die Welt, kann es auch ein Kartenspiel sein? Umberto Eco meint ja und vergleicht die Welt mit dem Pokern. Großer Einsatz und Risiko, und oft nichts dahinter, riesige Gewinne, katastrophale Verluste. "Die Herren pokern um die Welt", singt Konstantin Wecker und die Zustände in Politik und Wirtschaft erinnern ja häufig genug daran.

 

Jostein Garder hingegen – mein zweites Beispiel - hat die Welt mit einer Patience verglichen. Aus dem anfänglichen Chaos muss Ordnung werden durch geduldiges und beharrliches Arbeiten, also eine Art Schöpfung der Welt, weil ja auch Gott aus dem anfänglichen Tohuwabohu in sieben Tagen einen Kosmos, eine gestaltete Ordnung machte.

 

Ich schlage für diese Woche vor, die Welt mit dem Tarockspiel zu vergleichen.

 

Es war Fritz von Herzmanovsky Orlando, der Österreich als Tarockanien bezeichnet hat. Die Verfassung dieses wunderlichen Landes entspricht den Spielregeln des Tarock, der oberste Herrscher heißt "Sküs", wie die höchste Karte des Tarock und so weiter.

 

Der Mensch ist dazu gemacht, ein Spiel Gottes zu sein. Ein schönes, altes Spiel wie das Tarockieren kann daran erinnern.

 

 

Dienstag, 27. 11. 2001

 

Gibt es beim Tarockieren eine religiöse Tiefenschicht?

 

Als Erstes möchte ich einen seltsamen Umstand erwähnen. Es ist ja bekannt, dass die meisten, ja fast alle Spiele, die in einer Runde gespielt werden, im Uhrzeigersinn verlaufen. Dem links von mir sitzenden Mitspieler teile ich aus, nach dem rechts Sitzenden komme ich dran.

 

Der Uhrzeigersinn ist eine Erinnerung daran, dass es vor den mechanischen nur die Sonnenuhren gab. Auf der nördlichen Erdhalbkugel läuft der Schatten der Sonnenuhr im Sinne des heutigen Uhrzeigers, der so ständig daran erinnert, dass die Zeit vergeht. Und wenn nun auch beim Spiel dieser Uhrzeigersinn eingehalten wird, dann bedeutet das, dass das Spiel keine Ausnahme vom allgemeinen Weltlauf darstellt.

 

Die Zeit vergeht. Wie in der Sanduhr verströmt und verrinnt sie, bis alles Vergangenheit ist und die Zukunft zu einem Nichts entleert. Das Beste, was Menschen unter diesem Aspekt von Vergänglichkeit vom Spiel sagen können ist, dass die Zeit stehen bleibt oder dass sie wie im Flug vergangen ist. Wie anders aber beim Tarock!

 

Beim Tarockieren wird nicht nur gegen den Uhrzeiger gegeben, sondern auch gespielt! Ist die Ursache dafür die Erinnerung an die jüdischen Wurzeln dieses Spieles, wie auf der berühmten Uhr im Prager Ghetto, an der die Zeiger für Nichtjuden verkehrt herum laufen wie die Buchstaben in der hebräischen Schrift?

 

Aber vielleicht ist es auch ein Hinweis darauf, dass es sich bei Tarock um ein außergewöhnliches Spiel handelt, bei dem in jeder Runde und mit jedem Ausspiel das Rad der Zeit zurück- gedreht wird. Das wäre natürlich ein unerhörter Gedanke, wenn es wirklich so ein Spiel gäbe, bei dem der Lauf der Zeit rückgängig gemacht würde.

 

Dann würde Tarockieren jünger machen, wie sonst nur das Warten auf Gott, wie es in einem adventlichen Bibeltext heißt (Jesaja 40, 30):

Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

 

 

Mittwoch, 28. 11. 2001

 

Tarock ist ein sehr altes Spiel. Nach heutigem Wissensstand sind die Kartenspiele so um 1320 in Europa aufgekommen, zuerst in Italien. Gleich darauf wurden sie von der Kirche verboten, was – wie alles Verbotene - zu ihrer Verbreitung stark beigetragen haben dürfte. Das Besondere des Tarock ist, dass zu den klassischen Kartenfiguren, König, Reiter, Dame, Bube in den vier bekannten Farben Herz, Pik, Kreuz und Karo noch jene geheimnisvollen "Tarrocchi" kommen.

 

22 Karten, nummeriert mit römischen Ziffern, drei davon mit sehr bekannten Namen. Der Mond, der Sküs und der Pagat. Diese "Tarrocchi", die Tarock, sind spezielle Trümpfe, die die Verwandtschaft mit den Karten des Tarot erkennen lassen, den alten esoterischen Karten des Weissagens.

 

Die Herkunft dieser geheimnisvollen Karten dürfte weit vor dem 14. Jahrhundert gelegen haben, ob es wirklich schon die alten Ägypter waren, wie die Legende behauptet, wer kann es schon genau wissen. Nun drücken die vier Farben nichts anderes aus als die vier Elemente, aus denen alles besteht, oder die vier Himmels- richtungen, aus denen alles kommt. Am Kartentisch ist also alles versammelt, was es gibt auf der weiten Welt.

 

Ein kleiner Kosmos in sich, ein Weltmodell. Aber was sind die 22 Tarock? Ihre Herkunft wird auf jüdische Wurzeln zurückgeführt, sie stellen die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets dar und jeder Buchstabe ist eine Zahl, Pagat, der Einser, wäre Aleph, und der Sküs, Nummer 22, wäre Tau, das Ende und Nichts, in das die Dinge gehen. Zur Welt wie sie ist – symbolisiert durch die Zahl Vier – kommt die Botschaft eines unsichtbaren Gottes, der die Welt nicht so lässt, wie sie ist, sondern sie verändert auf ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit hin.

 

So begegnet an jedem Tarocktisch die jüdisch-christliche Tradition und jeder Stich mit Tarock über Herz, Karo, Kreuz oder Pik stärkt das adventlichte Verlangen nach dem messianischen Reich des Friedens.

 

 

Donnerstag, 29.11.2001

 

Zu viert ist die Runde beim Tarock.

Freilich gibt es auch Varianten für drei, ja sogar für zwei Spieler und Spielerinnen.

 

Aber das sind Notlösungen, die nicht die ganze Fülle der verschiedenen Spiele beim Tarock zulassen. Die Vier ist die Zahl der irdischen Verhältnisse und meistens geht es auch beim Tarockieren so zu, wie es eben auf Erden zugeht: Einer hat alles, die anderen nichts. Oder zumindest wenig. Die Zufälligkeit des Spieles und des Kartenglücks spiegelt die Ungerechtigkeit der Welt.

 

Im Evangelium sagt Jesus dazu bitter: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird auch das noch genommen (Matthäus 13,12; 25,29). Ist das ein unveränderliches Schicksal? Können sich die wehren, die nichts haben? In Tarockanien können sie es: Sie spielen ein negatives Spiel. Bettler oder Pikkolo.

 

Und schon ist alles umgekehrt. Plötzlich sind die im Vorteil, die nichts haben. Und die, die alles in Händen halten, sind gefährdet. So eine Umkehr der Verhältnisse, so eine Revolution, würde unsere Welt wohl brauchen!

Das Tarockspiel nimmt sie vorweg, spielerisch. Und ganz besonders herausfordernd ist es, wenn diese negativen Spiele der Habenichtse auch noch offen, ouvert, gespielt werden.

 

Mit offenen Karten! Karten auf den Tisch! Wer nichts hat, kann alles herzeigen, braucht nichts verstecken hinter anonymen Konten und getönten Scheiben. Die Botschaft, dass Verlierer und Habenichtse gewinnen und dass Niederlagen letztlich der Sieg sind, erinnert an Jesus, seine Lehre, sein Leben und sein Werk. Das Kreuz als Siegeszeichen für Habenichtse und Verlierer auf dieser Welt. Das negative Spiel Gottes mit den Unrechtsverhältnissen, offen gespielt.

 

Charles Peguy hat das genannt: qui perd gagne – der Verlierer gewinnt.

 

 

Freitag, 30. 11. 2001

 

Ein besonderes Gewicht legt das Tarockspiel auf die letzten Karten. Es sind insgesamt 54 Karten im Spiel, 32 in den vier Farben und dazu die 22 Tarock. Jeder Spieler, jede Spielerin erhält zwölf Karten, natürlich zwölf, die heilige Zahl und zweimal drei Karten liegen im Talon. Oft plätschert ein Spiel am Anfang so dahin, Runde um Runde und dann stellt sich heraus, dass mit den letzten vier Karten die Entscheidungen fallen werden.

 

Nun besteht die Kunst darin, diese Betonung der letzten Karten auch zu planen und bewusst anzustreben. Am schwierigsten ist der viertletzte Stich mit dem Tarockvierer, dieses Kunststück heißt Quapil, dann der drittletzte mit dem Dreier, das ist der Pelikan, Kakadu oder Kanari, der vorletzte mit dem Zweier, dem Uhu und schließlich am bekanntesten, der letzte Stich mit dem Einsertarock, dem Pagat, "il bagatto", der Gaukler. Also der Pagat ultimo! Ultimo!

 

Im Geschäftsleben und Geldverkehr ein schlimmes, meist Unheil verkündigendes Wort, aber beim Tarockieren etwas ganz Besonderes und Herausforderndes. Was ist ein Pagat ultimo anderes als die spielerische Verwirklichung der Hoffnung der Evangelien, dass die Ersten die Letzten sein werden, die Letzten hingegen die Ersten. Es ist deshalb kein Wunder, dass es in Österreich im Revolutionsjahr 1848 einen eigenen Konstitutionstarock gegeben hat, wo auf den Karten die Parolen der Revolution abgedruckt waren.

 

Ein gefährliches Spiel! Es bestärkt den Eindruck, dass dieses Spiel quer zu den üblichen Welt- und Lebens- erfahrungen der Menschen steht und nicht den Alltag überhöhen, heiligen oder absegnen will, sondern ein Gegenmodell zu ihm darstellt.

Jene Umkehrung der bestehenden Verhältnisse, von denen gerade die adventliche Hoffnung voll ist, wie Maria in ihrem Loblied singt: Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen (Lukas 1,52)

 

 

Samstag, 1. 12. 2001

 

Das Herzstück des Tarock zu viert ist das Königrufen. Wer das Spiel ersteigert hat, hat das Recht einen Partner oder eine Partnerin zu rufen, indem er einen König nennt. Wer von den anderen dreien diesen König im Blatt hält, spielt nun mit dem Rufer gegen die beiden anderen. Die beiden binden sich aneinander, ohne sich zu kennen, ohne voneinander zu wissen.

 

Der gerufene König wird ins Geschick hineingezogen, im Guten wie im Schlechten. Er darf sich aber nicht gleich zu erkennen geben, erst im Laufe des Spieles stellt sich heraus, wer es ist. Am schönsten, wenn der gerufene König erst beim letzten Ausspiel herauskommt und sich offenbart, ein König ultimo! Beim Königrufen enthüllt sich die religiöse und christliche Tiefendimension des Tarock am klarsten. Hier wird nämlich etwas über das Verständnis des Glaubens sichtbar, wie es sich in den biblischen Überlieferungen findet.

 

Als erstes die Botschaft. Du musst es nicht alleine machen, rufe dir einen König, auch wenn du ihn nicht kennen solltest. Dann als zweites: Sei nicht ungeduldig, wenn du lange, lange nichts von deinem König merkst. Er ist da und auf deiner Seite, ja sogar dann, wenn er sich erst ganz am Schluss offenbart, wenn schon alles vorbei zu sein scheint. Und drittens: Dein gerufener König identifiziert sich ganz und gar mit deinem Geschick und Leben. Ohne jedes Wenn und Aber. Er kommt nicht, um über dich zu herrschen, sondern als dein Partner.

 

Ich meine, dass diese Haltungen etwas Adventliches haben: In die Dunkelheit und Wirrnis der Welt hinein den König zu rufen, auf sein Kommen zu vertrauen und sich dann darauf zu verlassen, dass er da ist, egal, wie die Karten fallen. Wie es beim Propheten Sacharja verheißen ist: Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer. Er wird die Kriegsbögen zerbrechen und den Völkern Frieden gebieten (Sacharja 9, 9f).