3. Dezember 2001
Demaskierung des "lieben
Gottes"
Wer eine Religion von innen kennt,
hat einen schärferen Blick für ihren Missbrauch. So auch Ödön
von Horváth. Seine Dramen stecken bis in die Titel hinein voller
biblischer Anspielungen: "Der jüngste Tag", "Glaube,
Liebe, Hoffnung", "Jugend ohne Gott". Aber wenige
haben ausgeleierte religiöse Redewendungen und Machtmissbrauch
unter dem Deckmantel der Religion so scharf kritisiert wie er.
Horváth wurde am 9. Dezember 1901 in einem Vorort von Fiume, dem
heutigen Rijeka, geboren, die Familie folgte dem Vater, einem
ungarischen Diplomaten, nach Belgrad, Budapest und München. Der
Katholizismus des Elternhauses war konventionell geprägt und auf
die religiösen Festtage beschränkt. In die Opposition zu dieser
Herkunft kam der junge Ödön erst durch den sturen
Katechismusunterricht am erzbischöflichen Konvikt in Budapest. 1930
– Horváth lebte in Berlin und war bereits als Schriftsteller
bekannt – trat er aus der römisch-katholischen Kirche aus.
Horváth war ein gnadenloser
Demaskierer des Bürgertums, auch was dessen Verhältnis zur
Religion betrifft. "Was verstehst du unter ‚lieber Gott’?"
fragt der Hotelier Strasser seine ehemalige Geliebte Christine in
der Komödie "Zur Schönen Aussicht". "Zehntausend
Mark", antwortet sie prompt. Diese 10.000 Mark hat Christine
geerbt, sie garantieren ihre Unabhängigkeit gegenüber den
Männern, die es allesamt nur auf ihr Geld abgesehen haben. Mit
diesem Geld ist sie gerettet – aber eben nur sie. Und so spinnt
sie ihren Gedanken weiter:
"Es gibt einen lieben Gott,
aber auf den ist kein Verlass. Er hilft nur ab und zu, die meisten
dürfen verrecken. Man müsste den lieben Gott besser organisieren.
Man könnte ihn zwingen. Und dann auf ihn verzichten."
Die Gleichsetzung von Gott und
Geld und die Legitimierung sozialer Ungerechtigkeit und einer
paradoxen Welt durch einen gleichgültigen oder strafenden Gott –
das ist es, was in Horváths Stücken immer wieder gegen den
"lieben Gott" ins Treffen geführt wird.
Dieser Gott ist ein Moloch, denn
er hat die Welt so gewollt, wie sie ist. Ein frühes Romanfragment
bringt das mit einer polemischen Bibelanspielung zum Ausdruck:
"Gott ersann immer neue
Bazillen. Seine Erfindungsgabe ist göttlich. Aber der Mensch wehrte
sich: je nach Geldbörse. Und Gott sprach: Es werde Krieg! Und es
ward Krieg. Und Gott sah, dass es gut war."
Ödön von Horváth hatte einen
klaren Blick auf soziale Muster und sprachliche Formeln. Seine
Demaskierung des falschen Redens von Gott ist den religiösen
Ursprüngen oft näher als manche christliche Floskel.
4. Dezember 2001
Gott und die Liebe
"Und die Liebe höret nimmer
auf" – dieses Zitat aus dem Hohelied der Liebe im Ersten
Korintherbrief des Apostels Paulus steht als Motto über Ödön von
Horváths Volksstück "Kasimir und Karoline". Kasimir
führt den biblischen Satz fort: " ... und sie höret nimmer
auf, solang du nämlich nicht arbeitslos wirst." An Kasimirs
Arbeitslosigkeit geht die Beziehung zu Karoline zugrunde.
In Horváths Stücken ist die
Liebe keine Himmelsmacht, und meist sind es die Frauen, die daran
zugrunde gehen – die Horváthschen Fräuleinfiguren, die aus der
bürgerlichen Enge und Scheinwelt ausbrechen wollen und dann
scheitern, in den Tod gehen oder in ihn getrieben werden oder
zwangsweise in die bürgerliche Welt zurück geholt werden, wie
Marianne in den "Geschichten aus dem Wienerwald". Als sie
ganz verzweifelt ist, sucht sie im Stephansdom den Rat eines
Beichtvaters. Sie ist bereit, alles zu bereuen – nur das nicht,
dass sie ihr Kind geboren hat, wie es der Beichtvater fordert. Da
schickt er sie aus dem Beichtstuhl. In der dunklen Kirche beginnt
sie zu beten:
"Wenn es einen lieben Gott
gibt – was hast du mit mir vor, lieber Gott? – Lieber Gott, ich
bin im achten Bezirk geboren und hab die Bürgerschul besucht, ich
bin kein schlechter Mensch – hörst du mich? – Was hast du mit
mir vor, lieber Gott? –"
Stille. Das ist die einzige
Antwort, die Marianne zuteil wird. Aus ihrem Gebet spricht ein
naiver Kinderglaube. Aber der wird im Stück nicht lächerlich
gemacht. Er ist authentischer als die Bibel-, Katechismus- und
Literaturzitate, die ihr entgegen geschleudert werden.
5. Dezember 2001
Gott als Widerstandspotential
"Ich bin nämlich eigentlich
ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu", sagt die
Baronin Ada in Ödön von Horváths Komödie "Zur Schönen
Aussicht". Aus Horváths Stücken spricht ein radikaler
Pessimismus: der Mensch ist ein Gefangener seines Milieus, seiner
sozialen Verhältnisse, er ändert sich nie. Erst in seinem Roman
"Jugend ohne Gott" zeigt er die Veränderung eines
Menschen, eines 34jährigen Geographie- und Geschichtelehrers, der
sich beim Aufkommen des Nationalsozialismus zunächst anpasst.
Horváth schreibt hier ein Stück weit seine eigene Geschichte: Auch
er hat einen Versuch gemacht, sich den Nazis anzudienen, um in
Deutschland arbeiten zu können. Erst 1936 übersiedelte er nach
Österreich.
Der Lehrer also ist ein
Opportunist, der Karriere machen will und zu sich selber sagt:
"Danke Gott, dass du zum Lehrkörper eines Städtischen
Gymnasiums gehörst." Aber mit seinem Satz "Auch die Neger
sind doch Menschen" kommt er mit der Nazi-Ideologie in
Konflikt. Zu seiner Verteidigung beruft er sich auf die Bibel.
Der Lehrer muss die Klasse auf ein
paramilitärisches Zeltlager begleiten, und dabei wird ein Schüler
ermordet. Auf der nächtlichen Wache bemerkt der Lehrer, dass der
Schüler Z mit einer Diebsbande kooperiert. Heimlich liest er das
Tagebuch des Z und zerbricht dabei das Schloss, verschweigt das
jedoch. So fällt der Verdacht, das Schloss aufgebrochen zu haben,
auf einen Schüler, der am nächsten Tag tot aufgefunden wird.
Im dritten Teil des Romans
"Jugend ohne Gott" findet der Gerichtsprozess statt. Und
hier geht nun die Veränderung des Lehrers vor sich. Er hört eine
Stimme, die ihn auffordert, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie ihn
belastet. Sein Verhalten wirkt ansteckend, der falsch Verdächtigte
wird entlastet und der wahre Mörder gefunden.
Die Stimme, die der Lehrer hört, ist die Stimme
Gottes. Gott kommt im Roman ins Spiel als Widerstandspotential gegen
den Nationalsozialismus. Wer eine einsame Entscheidung trifft und
Widerstand leistet, braucht ein Fundament und ein Kriterium
außerhalb seiner selbst – das ist die Botschaft des Romans
"Jugend ohne Gott".
6. Dezember 2001
Gott im Gewissen
"Wenn ich jemand umbring,
dann mach ich das schon mit mir selber aus. Allein mit meinem
Gott." So spricht der Präparator des Anatomischen Instituts in
Ödön von Horváths Volksstück "Glaube, Liebe,
Hoffnung". Drastischer kann man es nicht ausdrücken, wie sich
ein Mensch seinen Gott für die eigenen Interessen konstruiert und
wie bedeutungslos das Wort Gott im gedankenlosen Daherreden werden
kann. Mit Gott kann man alles machen.
Bedeutung bekommt das Wort Gott in
Horváths Roman "Jugend ohne Gott" – einem der wenigen
Romane des 20. Jahrhunderts, die Gott im Titel führen. Noch
seltener ist, dass Gott in eine Detektivgeschichte gerät. Bei
Horváth wird die detektivische Suche geradezu zu seinen Sinnbild
der Gottsuche. Die Aufklärung eines Verbrechens wird gleichzeitig
zur Sozialkritik und zur Darstellung religiöser Erfahrung. Diese
religiöse Erfahrung hat keine esoterischen oder außergewöhnlichen
Züge, sie ereignet sich im Aussprechen der Wahrheit vor Gericht.
Der Entschluss des Lehrers, gegen seine eigenen Interessen die
Wahrheit zu sagen, ist Zentrum und Wendepunkt des ganzen Romans. Der
Zeuge vor Gericht wird zum Zeugen der Wahrhaftigkeit.
Das Gewissen ist der einzige
offene Punkt für den Himmel in uns, hat der Philosoph Friedrich
Wilhelm Schelling geschrieben. Das passt gut auf Horváths Roman
"Jugend ohne Gott", wo das Gewissen zum Ort der Erfahrung
Gottes wird. Und aus dieser Gotteserfahrung im Gewissen kann der
Lehrer – in Auseinandersetzung mit seinen Eltern und mit dem
Pfarrer – auch klar unterscheiden zwischen einem Gott, der die
schlechte Wirklichkeit rechtfertigen soll, und dem Gott der
Wahrheit.
7. Dezember
Die Rede von Gott
Wenn von Gott die Rede ist, muss
man genau hinhören, denn dieses Wort kann vieles bedeuten. Und auch
Gottlosigkeit heißt nicht immer dasselbe. Im Roman "Jugend
ohne Gott" von Ödön von Horváth gibt es zwei Arten von
Gottlosigkeit: die linksliberal-humanistische des Lehrers und –
darauf spielt der Romantitel an – die faschistische Gottlosigkeit
der Schüler. Drei verschiedene Gottesvorstellungen prallen in
diesem Roman aufeinander: Da ist einmal der Konventionsgott der
Eltern des Lehrers, zum anderen der zynische Gott des Pfarrers, der
unumwunden sagt: "Gott ist das Schrecklichste auf der
Welt"; damit rechtfertigt er das Leid armer Kinder und eine
Kirche, die auf Seiten der Reichen und des Staates steht. Mit beidem
will der Lehrer nichts zu tun haben. Er hat Gott erfahren in seiner
Gewissensentscheidung, vor Gericht die Wahrheit zu sagen, auch wenn
sie ihn selber belastet. Aber er findet keine richtigen Worte für
diese Erfahrung. Deutlich wird das, als er den Eltern einen Brief
schreiben will. Da bringt er den konventionellen Satz "Macht
Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen" zu Papier. Dann
schämt er sich dafür und zerreißt den Brief. Nach mehreren
vergeblichen Versuchen betrinkt sich der Lehrer und schreibt den
Satz dann doch hin: "Gott wird schon helfen." Der Lehrer
kann nicht zur naiven Frömmigkeit seiner Eltern zurückkehren. Aber
er hat in seiner Gewissensentscheidung Gott erfahren und hat doch
keinen anderen Namen für ihn als dieses immer wieder missbrauchte
und vieldeutige Wort Gott. Doch er gibt ihm eine neue eigene
Bedeutung.
Abseits aller kirchlichen
Frömmigkeit macht Ödön von Horváth Gott und Gottlosigkeit in
seinem Roman zum zentralen Thema. Er schreibt von einem Standpunkt
aus, der den christlichen Glauben als unmittelbare Gewissheit hinter
sich gelassen hat. Und provoziert damit Christen wie Nichtchristen.
Literatur zum Thema:
Stefan Heil: "Die Rede von Gott im Werk
Ödön von Horváths" Schwabenverlag, Ostfildern 1999
Adolf Holl: "Gott ist die Wahrheit oder:
Horváths Suche nach der zweiten religiösen Naivität" In:
Horváths "Jugend ohne Gott". Hrsg. von Traugott Krischke.
Frankfurt am Main 1984 (Suhrkamp Taschenbuch 2027), Seite 147-156