Gedanken für den Tag

03. bis 07. 12. 2001, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr

 

von Cornelius Hell

 

 

"Gott ist die Wahrheit" –

Zum 100. Geburtstag von Ödön von Horváth

 

 

3. Dezember 2001

 

Demaskierung des "lieben Gottes"

Wer eine Religion von innen kennt, hat einen schärferen Blick für ihren Missbrauch. So auch Ödön von Horváth. Seine Dramen stecken bis in die Titel hinein voller biblischer Anspielungen: "Der jüngste Tag", "Glaube, Liebe, Hoffnung", "Jugend ohne Gott". Aber wenige haben ausgeleierte religiöse Redewendungen und Machtmissbrauch unter dem Deckmantel der Religion so scharf kritisiert wie er. Horváth wurde am 9. Dezember 1901 in einem Vorort von Fiume, dem heutigen Rijeka, geboren, die Familie folgte dem Vater, einem ungarischen Diplomaten, nach Belgrad, Budapest und München. Der Katholizismus des Elternhauses war konventionell geprägt und auf die religiösen Festtage beschränkt. In die Opposition zu dieser Herkunft kam der junge Ödön erst durch den sturen Katechismusunterricht am erzbischöflichen Konvikt in Budapest. 1930 – Horváth lebte in Berlin und war bereits als Schriftsteller bekannt – trat er aus der römisch-katholischen Kirche aus.

 

Horváth war ein gnadenloser Demaskierer des Bürgertums, auch was dessen Verhältnis zur Religion betrifft. "Was verstehst du unter ‚lieber Gott’?" fragt der Hotelier Strasser seine ehemalige Geliebte Christine in der Komödie "Zur Schönen Aussicht". "Zehntausend Mark", antwortet sie prompt. Diese 10.000 Mark hat Christine geerbt, sie garantieren ihre Unabhängigkeit gegenüber den Männern, die es allesamt nur auf ihr Geld abgesehen haben. Mit diesem Geld ist sie gerettet – aber eben nur sie. Und so spinnt sie ihren Gedanken weiter:

 

"Es gibt einen lieben Gott, aber auf den ist kein Verlass. Er hilft nur ab und zu, die meisten dürfen verrecken. Man müsste den lieben Gott besser organisieren. Man könnte ihn zwingen. Und dann auf ihn verzichten."

 

Die Gleichsetzung von Gott und Geld und die Legitimierung sozialer Ungerechtigkeit und einer paradoxen Welt durch einen gleichgültigen oder strafenden Gott – das ist es, was in Horváths Stücken immer wieder gegen den "lieben Gott" ins Treffen geführt wird.

 

Dieser Gott ist ein Moloch, denn er hat die Welt so gewollt, wie sie ist. Ein frühes Romanfragment bringt das mit einer polemischen Bibelanspielung zum Ausdruck:

 

"Gott ersann immer neue Bazillen. Seine Erfindungsgabe ist göttlich. Aber der Mensch wehrte sich: je nach Geldbörse. Und Gott sprach: Es werde Krieg! Und es ward Krieg. Und Gott sah, dass es gut war."

 

Ödön von Horváth hatte einen klaren Blick auf soziale Muster und sprachliche Formeln. Seine Demaskierung des falschen Redens von Gott ist den religiösen Ursprüngen oft näher als manche christliche Floskel.

 

 

4. Dezember 2001

 

Gott und die Liebe

"Und die Liebe höret nimmer auf" – dieses Zitat aus dem Hohelied der Liebe im Ersten Korintherbrief des Apostels Paulus steht als Motto über Ödön von Horváths Volksstück "Kasimir und Karoline". Kasimir führt den biblischen Satz fort: " ... und sie höret nimmer auf, solang du nämlich nicht arbeitslos wirst." An Kasimirs Arbeitslosigkeit geht die Beziehung zu Karoline zugrunde.

 

In Horváths Stücken ist die Liebe keine Himmelsmacht, und meist sind es die Frauen, die daran zugrunde gehen – die Horváthschen Fräuleinfiguren, die aus der bürgerlichen Enge und Scheinwelt ausbrechen wollen und dann scheitern, in den Tod gehen oder in ihn getrieben werden oder zwangsweise in die bürgerliche Welt zurück geholt werden, wie Marianne in den "Geschichten aus dem Wienerwald". Als sie ganz verzweifelt ist, sucht sie im Stephansdom den Rat eines Beichtvaters. Sie ist bereit, alles zu bereuen – nur das nicht, dass sie ihr Kind geboren hat, wie es der Beichtvater fordert. Da schickt er sie aus dem Beichtstuhl. In der dunklen Kirche beginnt sie zu beten:

 

"Wenn es einen lieben Gott gibt – was hast du mit mir vor, lieber Gott? – Lieber Gott, ich bin im achten Bezirk geboren und hab die Bürgerschul besucht, ich bin kein schlechter Mensch – hörst du mich? – Was hast du mit mir vor, lieber Gott? –"

 

Stille. Das ist die einzige Antwort, die Marianne zuteil wird. Aus ihrem Gebet spricht ein naiver Kinderglaube. Aber der wird im Stück nicht lächerlich gemacht. Er ist authentischer als die Bibel-, Katechismus- und Literaturzitate, die ihr entgegen geschleudert werden.

 

 

5. Dezember 2001

 

Gott als Widerstandspotential

"Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu", sagt die Baronin Ada in Ödön von Horváths Komödie "Zur Schönen Aussicht". Aus Horváths Stücken spricht ein radikaler Pessimismus: der Mensch ist ein Gefangener seines Milieus, seiner sozialen Verhältnisse, er ändert sich nie. Erst in seinem Roman "Jugend ohne Gott" zeigt er die Veränderung eines Menschen, eines 34jährigen Geographie- und Geschichtelehrers, der sich beim Aufkommen des Nationalsozialismus zunächst anpasst. Horváth schreibt hier ein Stück weit seine eigene Geschichte: Auch er hat einen Versuch gemacht, sich den Nazis anzudienen, um in Deutschland arbeiten zu können. Erst 1936 übersiedelte er nach Österreich.

 

Der Lehrer also ist ein Opportunist, der Karriere machen will und zu sich selber sagt: "Danke Gott, dass du zum Lehrkörper eines Städtischen Gymnasiums gehörst." Aber mit seinem Satz "Auch die Neger sind doch Menschen" kommt er mit der Nazi-Ideologie in Konflikt. Zu seiner Verteidigung beruft er sich auf die Bibel.

 

Der Lehrer muss die Klasse auf ein paramilitärisches Zeltlager begleiten, und dabei wird ein Schüler ermordet. Auf der nächtlichen Wache bemerkt der Lehrer, dass der Schüler Z mit einer Diebsbande kooperiert. Heimlich liest er das Tagebuch des Z und zerbricht dabei das Schloss, verschweigt das jedoch. So fällt der Verdacht, das Schloss aufgebrochen zu haben, auf einen Schüler, der am nächsten Tag tot aufgefunden wird.

 

Im dritten Teil des Romans "Jugend ohne Gott" findet der Gerichtsprozess statt. Und hier geht nun die Veränderung des Lehrers vor sich. Er hört eine Stimme, die ihn auffordert, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie ihn belastet. Sein Verhalten wirkt ansteckend, der falsch Verdächtigte wird entlastet und der wahre Mörder gefunden.

 

Die Stimme, die der Lehrer hört, ist die Stimme Gottes. Gott kommt im Roman ins Spiel als Widerstandspotential gegen den Nationalsozialismus. Wer eine einsame Entscheidung trifft und Widerstand leistet, braucht ein Fundament und ein Kriterium außerhalb seiner selbst – das ist die Botschaft des Romans "Jugend ohne Gott".

 

 

6. Dezember 2001

 

Gott im Gewissen

"Wenn ich jemand umbring, dann mach ich das schon mit mir selber aus. Allein mit meinem Gott." So spricht der Präparator des Anatomischen Instituts in Ödön von Horváths Volksstück "Glaube, Liebe, Hoffnung". Drastischer kann man es nicht ausdrücken, wie sich ein Mensch seinen Gott für die eigenen Interessen konstruiert und wie bedeutungslos das Wort Gott im gedankenlosen Daherreden werden kann. Mit Gott kann man alles machen.

 

Bedeutung bekommt das Wort Gott in Horváths Roman "Jugend ohne Gott" – einem der wenigen Romane des 20. Jahrhunderts, die Gott im Titel führen. Noch seltener ist, dass Gott in eine Detektivgeschichte gerät. Bei Horváth wird die detektivische Suche geradezu zu seinen Sinnbild der Gottsuche. Die Aufklärung eines Verbrechens wird gleichzeitig zur Sozialkritik und zur Darstellung religiöser Erfahrung. Diese religiöse Erfahrung hat keine esoterischen oder außergewöhnlichen Züge, sie ereignet sich im Aussprechen der Wahrheit vor Gericht. Der Entschluss des Lehrers, gegen seine eigenen Interessen die Wahrheit zu sagen, ist Zentrum und Wendepunkt des ganzen Romans. Der Zeuge vor Gericht wird zum Zeugen der Wahrhaftigkeit.

 

Das Gewissen ist der einzige offene Punkt für den Himmel in uns, hat der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling geschrieben. Das passt gut auf Horváths Roman "Jugend ohne Gott", wo das Gewissen zum Ort der Erfahrung Gottes wird. Und aus dieser Gotteserfahrung im Gewissen kann der Lehrer – in Auseinandersetzung mit seinen Eltern und mit dem Pfarrer – auch klar unterscheiden zwischen einem Gott, der die schlechte Wirklichkeit rechtfertigen soll, und dem Gott der Wahrheit.

 

 

7. Dezember

 

Die Rede von Gott

Wenn von Gott die Rede ist, muss man genau hinhören, denn dieses Wort kann vieles bedeuten. Und auch Gottlosigkeit heißt nicht immer dasselbe. Im Roman "Jugend ohne Gott" von Ödön von Horváth gibt es zwei Arten von Gottlosigkeit: die linksliberal-humanistische des Lehrers und – darauf spielt der Romantitel an – die faschistische Gottlosigkeit der Schüler. Drei verschiedene Gottesvorstellungen prallen in diesem Roman aufeinander: Da ist einmal der Konventionsgott der Eltern des Lehrers, zum anderen der zynische Gott des Pfarrers, der unumwunden sagt: "Gott ist das Schrecklichste auf der Welt"; damit rechtfertigt er das Leid armer Kinder und eine Kirche, die auf Seiten der Reichen und des Staates steht. Mit beidem will der Lehrer nichts zu tun haben. Er hat Gott erfahren in seiner Gewissensentscheidung, vor Gericht die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie ihn selber belastet. Aber er findet keine richtigen Worte für diese Erfahrung. Deutlich wird das, als er den Eltern einen Brief schreiben will. Da bringt er den konventionellen Satz "Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen" zu Papier. Dann schämt er sich dafür und zerreißt den Brief. Nach mehreren vergeblichen Versuchen betrinkt sich der Lehrer und schreibt den Satz dann doch hin: "Gott wird schon helfen." Der Lehrer kann nicht zur naiven Frömmigkeit seiner Eltern zurückkehren. Aber er hat in seiner Gewissensentscheidung Gott erfahren und hat doch keinen anderen Namen für ihn als dieses immer wieder missbrauchte und vieldeutige Wort Gott. Doch er gibt ihm eine neue eigene Bedeutung.

 

Abseits aller kirchlichen Frömmigkeit macht Ödön von Horváth Gott und Gottlosigkeit in seinem Roman zum zentralen Thema. Er schreibt von einem Standpunkt aus, der den christlichen Glauben als unmittelbare Gewissheit hinter sich gelassen hat. Und provoziert damit Christen wie Nichtchristen.

 

 

Literatur zum Thema:

 

Stefan Heil: "Die Rede von Gott im Werk Ödön von Horváths" Schwabenverlag, Ostfildern 1999

 

Adolf Holl: "Gott ist die Wahrheit oder: Horváths Suche nach der zweiten religiösen Naivität" In: Horváths "Jugend ohne Gott". Hrsg. von Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1984 (Suhrkamp Taschenbuch 2027), Seite 147-156