Gedanken für den Tag

31. bis 05. 01. 2002, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr

 

 

von Dr. Helmut Obermayr

 

Anmerkungen zu Senecas Betrachtungen über die Zeit

 

 

31. Dezember 2001

(Von der Kürze des Lebens, Kapitel 1)

 

"Die Mehrheit der Menschen beklagt sich über die Missgunst der Natur, dass wir nur für eine kurze Zeitspanne geboren werden, dass diese uns gegebene Frist so rasch, so stürmisch abläuft." Mit einer Klage, wie sie wohl heute am letzten Tag des Jahres oft ausgesprochen wird, beginnt der römische Philosoph Seneca sein Buch "De brevitate vitae", "Von der Kürze des Lebens". Eigentlich beschäftigen sich antike Autoren kaum mit der Zeitknappheit. In der Bibel zum Beispiel findet sich kaum eine Zeile, die zum Ausnützen der Zeit mahnt angesichts ihrer Flüchtigkeit. Da wird nie der moderne Vorwurf der Zeitverschwendung erhoben. Eher wird Gelassenheit empfohlen im Glauben, dass nur einer über die Zeit herrscht, nämlich Gott.

 

Die Welt des Seneca, das Rom des ersten Jahrhunderts nach Christus, kannte dagegen offensichtlich die Zeitknappheit, unter der auch die Menschen der Moderne leiden: Die Antwort des Philosophen darauf ist ein Vorwurf: "Wir haben keine Knappheit an Zeit, aber wir haben viel davon verschwendet. Unser Leben ist lang genug und zur Vollendung der größten Taten reichlich bemessen, wenn es im Ganzen gut verwendet würde". Gleich am Anfang seiner Betrachtungen über die Kürze des Lebens kritisiert Seneca die Zeitverschwendung durch Genusssucht und Nachlässigkeit, wie er an anderer Stelle übertriebene Geschäftigkeit anprangert, und er kommt zur Schlussfolgerung: "Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern gehen verschwenderisch damit um."

 

Vielleicht ist es aber manchmal ein luxuriöser Genuss, Zeit zu verschwenden. Aber vom Genießen hat der strenge Stoiker nicht viel gehalten.

 

 

02. Jänner 2002

(Von der Kürze des Lebens, Kapitel 2 und 3)

 

"Wenn du das Leben zu gebrauchen verstehst, ist es lang" stellt Seneca in seiner Schrift "Über die Kürze des Lebens" fest. In der Analyse der Gesellschaft im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts hält er gleichzeitig auch fest, dass die Zeit vielen zu kurz wird, weil sie ihr Leben mit Überflüssigem und Schädlichem vergeuden. Mühevolle Geschäftigkeit fällt für den Philosophen, der aus der Politik gekommen ist, ebenso darunter wie lasterhafter Müßiggang. Viele wichtige Menschen aber würden sich von anderen zu viel von ihrer Zeit nehmen lassen, konstatiert Seneca trocken. Sich die Zeit stehlen lassen, nennt man es heute noch drastischer. Niemand würde einen Fremden auf dem eigenen Grundstück dulden, niemand würde sein Geld verteilen, aber an wie viele verteilt ein jeder sein Leben, mahnt Seneca zum Egoismus im Umgang mit der Zeit.

 

"Also," schlägt er vor, "rufe dir dein Leben zur Abrechnung ins Gedächtnis! Sag, wie viel von dieser Zeit der Gläubiger, wie viel die Freundin, wie viel der König, wie viel dein Klient dir entzogen hat, wie viel der Streit mit deiner Frau, wie viel die Züchtigung der Sklaven, wie viel dein geschäftiges Herumrennen in der Stadt... Du wirst sehen, dass du weniger Jahre hast als du zählst". Die Menschen verhalten sich, als lebten sie ewig. Jeder will sein ererbtes Vermögen festhalten, wundert sich Seneca, "sobald es aber um den Verlust der Zeit geht, sind sie verschwenderisch in dem, wo allein Geiz anständig wäre."

 

Die eigene Zeit nicht an andere verschwenden, geizig mit seiner Zeit sein, sich die Zeit nicht stehlen lassen, dann wird sie nicht knapp. Manchmal ist es freilich gut und recht, Zeit zu verschenken, aber von dieser Form der Nächstenliebe hat Seneca nichts geschrieben.

 

 

03. Jänner 2002

(1. Brief an Lucilius)

 

"Alles ist fremdes Gut, nur die Zeit gehört uns" schreibt der römische Philosoph Seneca im ersten Brief an seinen Freund Lucilius. "Omnia, Lucilii, aliena sunt, tempus tantum nostrum est." Seneca rät, sorgfältig mit dem Gut der Zeit umzugehen. Zu viel würde verschwendet. In anderen Schriften stellt er den Zusammenhang zwischen der Angst der Menschen vor dem Zerrinnen der Zeit und ihrem Unglücklichsein her. Für Lucilius hat er den knappen Rat: "Befreie dich für dich selbst und sammle und bewahre die Zeit, die dir bisher entweder geraubt oder heimlich gestohlen wurde oder die entschlüpfte... Manche Augenblicke werden uns entrissen, manche entzogen, manche verrinnen. Der beschämendste Verlust ist jedoch der, der durch Nachlässigkeit verursacht wird. Ein großer Teil des Lebens entgleitet den Menschen, wenn sie Schlechtes tun, der größte, wenn sie nichts tun, das ganze Leben, wenn sie Nebensächliches tun. "Da findet sich keine Spur von südlicher Gelassenheit, kein Gedanke an ein dolce far niente. "Halte alle Stunden fest." Wer den heutigen Tag ausnütze, habe weniger Sorgen, ob ihm morgen noch genug Zeit bleibe. Seneca gesteht freilich, dass er auch selbst immer wieder seine Zeit verschwende, aber er wisse wenigstens, warum und womit. Und schließlich sei der nicht arm, dem das wenige, was ihm verblieben ist, genügt. Aber trotzdem bleibt am Ende doch Bitterkeit, wenn Seneca schreibt: "Zu spät ist die Sparsamkeit am Boden des Fasses, ganz unten bleibt nämlich nicht nur sehr wenig, sondern auch das Schlechteste zurück".

 

Einige Jahre vorher hat Jesus von Nazareth auf die Lilien des Feldes gedeutet, auf die Spatzen am Himmel, die nicht arbeiten und trotzdem alles zum Leben haben. "Sorgt Euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage", hat er den Menschen auf den Hügeln am See Genezareth geraten.

 

 

4. Jänner 2002

(101. Brief an Lucilius)

 

"Jeder Tag, jede Stunde zeigt uns unsere Nichtigkeit und beweist uns von neuem unsere Hinfälligkeit, die wir vergessen haben. Mitten in unseren Plänen zwingt sie uns, auf den Tod zu schauen". Es klingt nach mittelalterlichem Totentanz, was Seneca um das Jahr 60 an seinen Freund Lucilius geschrieben hat. Wahnwitz nennt er es, die Hoffnung in die Ferne zu richten, sich vorzunehmen, zu kaufen, zu bauen, Kredite zu geben, Ämter zu führen und für das Alter Muße und Ruhe zu planen. "Alles ist unsicher, auch für die Glücklichen... Keiner darf sich etwas von der Zukunft versprechen. Auch was man fest hält, zerrinnt in der Hand und die Stunde, die wir ergreifen, schneidet der Zufall ab." Der römische Stoiker glaubt zwar an ein Gesetz, nach dem die Zeit läuft, aber er weiß, dass er es nicht kennt. "Es steht gewiss für uns ein Ende da fest, wo es die unerbittliche Notwendigkeit des Schicksals auferlegt hat, aber niemand von uns weiß, wie weit er vom Ende entfernt ist," formuliert er. Aber wer sich der Vergänglichkeit bewusst sei, der habe keine Furcht. Täglich so zu leben, als lebe man den letzten Tag, befreie von der Angst vor dem letzten Tag. Sein Rezept für den Freund Lucilius: "Beeile dich, dein Leben zu leben, halte jeden einzelnen Tag für ein eigenständiges Leben... Wer täglich sein Leben lebt, der ist ruhig, der ist furchtlos."

 

Im Psalm 103 der Bibel wird die Vergänglichkeit des Geschaffenen mit einem Vergleich beschrieben: "Des Menschen Tage sind wie Gras; er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr." Aber dann findet sich ein Trost, den der römische Philosoph nicht gekannt hat: "Doch die Huld des Herrn währt immer und ewig für alle, die ihn fürchten."

 

 

05. Jänner 2002

(Von der Gemütsruhe)

 

Streng und unerbittlich sei mit der Zeit umzugehen, fordert der römische Philosoph Seneca, als habe er nicht im ersten Jahrhundert nach Christus gelebt sondern für die hektischen Zeitgenossen von heute geschrieben, für alle, die die Effizienz als höchstes Ziel nennen. Der Stoiker aus der Zeit und Umgebung Neros nennt die Zeit das höchste Gut des Menschen. Dass Zeit Geld sei, ist ihm noch nicht eingefallen. Er nennt es dumm, wenn man die Zeit für allzu viel Geschäftigkeit verwendet oder sich von anderen zu sehr beanspruchen, sich die Zeit damit stehlen lässt. Mit der Zeit richtig umzugehen, bewahre vor Furcht, vor allem vor der Furcht vor dem Tod, die die stoischen Philosophen für den Gipfel der Dummheit halten. Der rechte Gebrauch der Zeit bringe Ruhe und damit Glück. In seiner Schrift über die Gemütsruhe schlägt Seneca denen ein Schnippchen, die aus seinen Empfehlungen über das Nützen der Zeit nur Pflichten ableiten. Dort hält er ein Plädoyer für die Pausen: "Man darf den Geist nicht immer in der gleichen Weise anspannen, sondern muss sich auch wieder heiteren Dingen hingeben. Man gönne dem Geist Erholung. Frischer und kräftiger wird er sich nach der Ruhe wieder erheben." Eine Pause am Nachmittag, der Feierabend und die allgemeinen Feiertage sieht er als Gelegenheit dazu. Muße, Spaziergänge, Reisen nennt Seneca als Beispiel für die notwendige Nahrung der Seele und des Geistes. Und außerdem finden sich als Mittel der Entspannung noch "eine gemeinschaftliche Mahlzeit und ein etwas tieferer Trunk. Zuweilen", so heißt es wörtlich im Buch über die Gemütsruhe, "zuweilen darf es auch zu einem kleinen Rausch kommen, doch so, dass wir nur untertauchen, nicht dass er uns ersäufe."

 

Niemand muss diese Zeilen wörtlich befolgen, aber wer die strenge Weisheit der alten Philosophen lobt, sollte auch ihr Verständnis für allzu Menschliches kennen und schätzen.

 

 

Die Schriften Senecas sind erschienen in Reclam Universalbibliothek:

31. Dezember und 2. Jänner: Von der Kürze des Lebens, ISBN 3-15-001847-1

3. Jänner: Briefe an Lucilius, 1. Buch, ISBN 3-15-002132-4

4. Jänner: Briefe an Lucilius, 17. und 18. Buch, ISBN 3-15-009373-2

5. Jänner: Vom glückseligen Leben und andere Schriften, ISBN 3-15-007790-7