Morgengedanken zum Ramadan
von Dr. Lise Abid
Sonntag, 18. 11. 2001
Ja, für die Anhänger des Islam hat in diesen
Tagen der Fastenmonat begonnen. Aber das ist kein trauriger Anlass
für die Muslime - im Gegenteil: der Ramadan ist eine festlichste
Zeit. Nach dem islamischen Mondkalender verschiebt er sich jedes
Jahr um 11 Tage und wandert so durch alle Jahreszeiten. An diesen
Festkalender halten sich auch die Muslime in Österreich - auch wenn
sie sonst nach dem ganz normalen europäischen Kalender leben.
Gerade beim Fastengebot entsteht für Manchen der
Eindruck von Strenge - der Islam selbst versteht sich aber als eine
natürliche Religion. Fasten bedeutet für die Muslime, dass der
Organismus jeden Tag zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung Pause
vom Essen und Trinken macht. Das soll Zeit für Besinnung schaffen;
Geist und Seele werden frei für die Aufnahme spiritueller Nahrung.
Erst abends bricht man das Fasten und nimmt eine
Mahlzeit ein. Das muslimische Fasten bezieht sich nicht auf die Art
der Speisen, sondern auf die Tageszeit, zu der man sie zu sich
nimmt.
Kinder brauchen natürlich nicht zu fasten. Wenn
ältere Schüler das trotzdem tun, dann sind sie meist am
Ausprobieren und wollen das machen, was die Erwachsenen in ihrer
Familie auch tun. Keinesfalls sollten Kinder zum Fasten gedrängt
werden, bevor sie erwachsen sind.
Es tut gut, sich an einen Ausspruch Mohammeds zu
erinnern, der lautet: "Macht es den Leuten leicht und nicht
schwer, verkündet ihnen frohe Botschaft und schreckt sie nicht
ab!"
Montag, 19. 11. 2001
Wer in aller Früh in die nächste Stadt zur
Arbeit pendelt, hat schon seine eigenen Frühstücksgewohnheiten
entwickelt. Mancher steht lieber früher auf, um in aller Ruhe
frühstücken zu können, ein anderer bringt früh am Morgen gar
nichts hinunter, andere verzehren ihr Frühstück in der Bahn oder
im Bus. Die muslimischem Kolleginnen und Kollegen stehen jetzt im
Fastenmonat Ramadan ganz sicher früh auf, denn den ganzen Tag
heißt es fasten. Ein gutes Frühstück hat sogar der Prophet
Mohammed empfohlen. Damit man noch etwas essen kann, läuten die
Wecker aber schon lange, bevor es noch hell wird, denn mit der
Dämmerung beginnt auch das tägliche Fasten. Um diese Zeit ruft in
muslimischen Ländern der Muezzin und vor Sonnenaufgang wird noch
das Morgengebet verrichtet. Vielleicht haben Sie das schon einmal im
Urlaub gehört und sind davon geweckt worden, wenn die Moschee
gleich nebenan war. Aber das bringen auch die vertrauten
Kirchenglocken fertig - vor allem in einem idyllischen Bergdorf,
wenn das Echo mitspielt.
In der Mittagspause werden muslimische Mitarbeiter
jetzt nicht in der Kantine sitzen, vielleicht nützen sie die Pause
für ihr Mittagsgebet. Etwas später folgt das Nachmittagsgebet und
nach Sonnenuntergang kündigt der Ruf des Muezzins das Abendgebet
und auch das Fastenbrechen an. Vor dem Schlafengehen kommt noch das
Nachtgebet. Die fünf täglichen Gebete sind in unserer hektischen
Arbeitswelt oft nur schwer unterzubringen. Wenn es sein muss, kann
man sie auch nachholen oder miteinander kombinieren. Im Ramadan
reservieren die Muslime aber besonders abends mehr Zeit, um in
gemeinsamen Gebeten Gott näher zu kommen.
Dienstag, 20. 11. 2001
Wenn muslimische Mitarbeiter jetzt im Ramadan
fasten, fragen sich vielleicht manche Kollegen, wie es mit deren
Arbeitsleistung aussieht. Wer den ganzen Tag arbeitet und sich nicht
zumindest durch einen Imbiss oder ein Getränk stärken kann, der
muss doch "ausgepowert" werden und am Abend ganz schlapp
sein?! - Stimmt, das Fasten bringt Anstrengungen mit sich, aber der
Zweck ist nicht, die Arbeitsleistung zu reduzieren. Einen gesunden
Menschen sollte das Fasten nicht so sehr ermüden, dass seine
Leistung nachlässt. Natürlich gibt es dabei Ausnahmefälle und bei
schwerer körperlicher Arbeit, womöglich im Freien bei Sommerhitze,
muss der Einzelne entscheiden, ob er das Fasten durchhält. Wer
wirklich gläubig ist, wird aber nicht nach Ausreden suchen, um sich
das Fasten zu ersparen.
Hart ist das Fasten oft, wenn man am Computer
arbeitet. Ohne den lieb gewordenen Kaffee kann einen der flimmernde
Bildschirm an den Rand des Einschlafens bringen, besonders wenn man
zum Fastenbeginn früh aufgestanden ist. Aber auch Raucher müssen
tagsüber auf ihren Glimmstängel verzichten - was vielleicht eine
Gelegenheit wäre, um sich langsam davon zu verabschieden.
Echte Ausnahmen gibt es für kranke, alte und
schwache Menschen und für Frauen, die schwanger sind oder stillen,
oder andere gewichtige Gründe haben. Wer kann und sich wieder
gesund fühlt, wird das Fasten zu einem späteren Zeitpunkt
nachholen. Und wenn das nicht möglich ist, dann sollte man als
Ersatz für jeden versäumten Fasttag einem Armen das Essen für
einen Tag spendieren.
Mittwoch, 21. 11. 2001
"Ja, warum tun die Muslime das eigentlich,
den ganzen Tag nichts essen, nichts trinken, nicht rauchen und
keinen Sex ...?" wird sich mancher fragen, der von den strengen
Fastenbestimmungen gehört hat. Der Fastenmonat bedeutet aber nicht,
dass man sich von der Lebensfreude verabschieden müsste. Eigentlich
feiern ja die Muslime etwas: es ist nämlich überliefert, dass der
Erzengel Gabriel im Monat Ramadan Mohammed die erste Offenbarung
überbrachte. Deshalb ist der Fastenmonat eine Zeit, wo abends viel
Fröhlichkeit aufkommt und man kann nachholen, was man am Tag
versäumt hat. Ratsam ist es, dabei das richtige Maß zu halten -
sowohl beim Essen als auch bei anderen Freuden. Bewusst "Maß
halten" ist eines der Hauptziele des Ramadan.
Am Abend ist Geselligkeit und "Relaxen"
angesagt. Bei den Einladungen zum Fastenbrechen trifft man nicht nur
die Familie, sondern Leute, die man oft lange nicht gesehen hat. Die
Atmosphäre ist entspannt und man hat sich viel zu erzählen.
Besonders die Frauen zelebrieren die abendlichen Treffen, die beste
Garderobe wird ausgeführt, Neuigkeiten werden ausgetauscht.
Aber nicht alles, was man da hört, stimmt
fröhlich - manches macht auch traurig. Da ist im Laufe des Jahres
ein Familienvater plötzlich verstorben, eine andere Familie musste
feststellen, dass das Haus, das man sich im Heimatland mit erspartem
Geld erbaut hat, abgebrannt ist .... Auch über solche und ähnliche
Schicksalsschläge hört man gerade im Ramadan, wenn alle
zusammenkommen. Oft wird dann spontan Hilfe organisiert, man sammelt
Geld und jeder gibt, was er oder sie geben kann. Nicht alles kann
man damit wieder gut machen - der Trost, den man dadurch spendet,
ist viel wichtiger. Dem anderen zu zeigen: "Du bist nicht
allein" - das ist vielleicht die wichtigste Botschaft des
Ramadan.
Donnerstag, 22. 11. 2001
Als ich vor einigen Tagen mein Auto in die
Reparaturwerkstätte bringen wollte, winkte der Mechanikermeister
ab: "Mein türkischer Lackierer ist heute nicht da. Bei denen
gibt's eine große Remasuri. Da ist was los, da kommen alle
Verwandten. Also kommen Sie morgen. Es ist besser, wenn Sie ihm den
Lackschaden selber zeigen."
Ich war überrascht: "Aber ich habe mir doch
den Termin ausgemacht ... wieso ist er dann nicht da?"
"Weiß ich nicht," brummte der Chef,
"die haben ein Fest, bei dem sie vorher nicht wissen, wann es
gefeiert wird. Das hat mit dem Mond zu tun! Aber von mir aus bekommt
er den Tag frei, wenn es so weit ist."
Jetzt dämmerte es mir: Richtig, die türkischen
Muslime feiern heute Bayram. Das Fest wird erst gefeiert, wenn nach
dem Neumond die Mondsichel wieder sichtbar ist. Deshalb weiß man
nicht genau, auf welchen Tag es fällt. Da ich selber nicht in der
glücklichen Lage war, mir den Tag arbeitsfrei zu nehmen und da die
meisten Muslime nach dem morgendlichen Festgebet zur Arbeit gehen,
war ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass eine kleine Werkstatt
so großzügig sein könne, den Tag frei zu geben.
Als ich dann einen Tag später wieder in die
Werkstätte kam, stand auf dem abgenützten Schreibtisch eine große
Schüssel mit orientalischen Süßigkeiten. Es war gerade
Frühstückspause und alle langten kräftig zu. Der Chef, der seinem
Lackierer zum islamischen Fest freigegeben hatte, lächelte mit
vollem Mund und zwinkerte den Mitarbeitern über sein Kaffeehäferl
zu.
Freitag, 23. 11. 2001
Die Abwechslung von Fastenzeit und fröhlicher
Ausgelassenheit hat in allen Kulturen vieles gemeinsam. Diese
Gemeinsamkeiten gibt es auch zwischen der christlichen und der
muslimischen Fastenzeit: für beide ist es eine Zeit der tieferen
Besinnung, des intensiveren Erlebens.
Man hat etwas mehr Zeit: bei den Muslimen fallen
die Tagesmahlzeiten komplett weg - und damit auch der ganze Aufwand
mit Gabelfrühstück womöglich unterwegs kaufen, Mittagessen kochen
und Jause herrichten. Beim christlichen Fasten, das an keine
Tageszeit gebunden ist, wird sicherlich etwas einfacher gekocht,
vielleicht kalt gegessen .... oder ein "Restl-Essen"
zubereitet. Bei den Muslimen werden die "Restln" vom
abendlichen Fastenbrechen meist in der Früh vor dem Fastenbeginn
aufgewärmt und verzehrt.
Da macht man sich dann vielleicht Gedanken, was
man sonst mit den Resten tut und was man eigentlich damit anfangen
könnte - wie viele Menschen von den Resten eines europäischen
Haushalts wohl satt würden? - Bringt eh nichts, wird mancher
einwenden, wir können ja nicht einmal die europäische
Überproduktion an Nahrungsmitteln zu den Hungernden bringen, und
oft genug müssen wertvolles Obst, Gemüse, Getreide, Milchprodukte
.... vernichtet werden.
Aber vielleicht erleichtert es das Gewissen, wenn
im eigenen Haushalt durch die einfachere Fastenkost das Budget
entlastet wird, so dass man sinnvolle Hungerhilfe-Projekte
finanziell ein bisschen unterstützen kann. Fasten heißt auch
teilen mit denen, die unfreiwillig das ganze Jahr über fasten. Es
mag altmodisch klingen, aber je gewissenhafter man die Fastenzeit
einhält, umso besser schmeckt dann das Essen und umso bewusster
erleben wir die sonstigen Genüsse des Lebens.
Samstag, 24. 11. 2001
Das Fest nach dem Fastenmonat Ramadan ist
traditionell kein "Fest des Schenkens". Weihnachten war
das ja früher auch nicht. Ich erinnere mich an ein
österreichisches Schulbuch, in dem das Weihnachtsfest auf dem Land
beschrieben war, so wie man es vielleicht vor 60 oder 80 Jahren
gefeiert hat. Da gab's Kekse, Kletzenbrot und Winteräpfel, für die
Kinder Zuckerln, und die Mutter hatte ihnen neue Fäustlinge und
Socken gestrickt. Wichtig war, sich gegenseitig eine Freude zu
machen. Das möchte man zwar heute auch, aber der Aufwand wird immer
größer.... Man freut sich nicht mehr so leicht über
Kleinigkeiten, wo doch in den Schaufenstern alles in Reichweite
scheint. Und Dinge, die man sowieso braucht, sind doch kein Geschenk
- oder?
Diese Einstellung macht sich überall dort breit,
wo eine Konsumgesellschaft entsteht - und Muslime sind da keine
Ausnahme. Es war zwar schon immer so, dass man zu den islamischen
Festen neue Kleider trug. Nun aber sieht es so aus, als hätte die
neue Kultur des Schenkens auch in die Ramadan-Festlichkeiten Einzug
gehalten. Muslimische Kinder erhalten heute Ähnliches wie ihre
Schulkameraden - nur nicht zu Weihnachten, sondern zum Zuckerfest -
wie das Fest nach dem Ramadan oft genannt wird.
Ob Weihnachts- oder Zuckerfest: wenn es nur noch
um Geschenke geht, dann tut es der Stimmung nicht gut. Unauffällige
Wohltätigkeit ist den Muslimen deshalb gerade im Ramadan ans Herz
gelegt. Wenn man weiß, dass jemand bedürftig ist, dann ist ein
praktisches Geschenk oft die Möglichkeit, den anderen nicht zum
Spendenempfänger zu machen. Der Beschenkte wird sich mit einer
Kleinigkeit revanchieren, und die darf man getrost annehmen:
Selbstwertgefühl ist auch ein Geschenk.