Morgengedanken

Sonntag, 18. 11. 2001. 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

 

Morgengedanken zum Ramadan

von  Dr. Lise Abid

 

 

Sonntag, 18. 11. 2001

 

Ja, für die Anhänger des Islam hat in diesen Tagen der Fastenmonat begonnen. Aber das ist kein trauriger Anlass für die Muslime - im Gegenteil: der Ramadan ist eine festlichste Zeit. Nach dem islamischen Mondkalender verschiebt er sich jedes Jahr um 11 Tage und wandert so durch alle Jahreszeiten. An diesen Festkalender halten sich auch die Muslime in Österreich - auch wenn sie sonst nach dem ganz normalen europäischen Kalender leben.

 

Gerade beim Fastengebot entsteht für Manchen der Eindruck von Strenge - der Islam selbst versteht sich aber als eine natürliche Religion. Fasten bedeutet für die Muslime, dass der Organismus jeden Tag zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung Pause vom Essen und Trinken macht. Das soll Zeit für Besinnung schaffen; Geist und Seele werden frei für die Aufnahme spiritueller Nahrung.

 

Erst abends bricht man das Fasten und nimmt eine Mahlzeit ein. Das muslimische Fasten bezieht sich nicht auf die Art der Speisen, sondern auf die Tageszeit, zu der man sie zu sich nimmt.

 

Kinder brauchen natürlich nicht zu fasten. Wenn ältere Schüler das trotzdem tun, dann sind sie meist am Ausprobieren und wollen das machen, was die Erwachsenen in ihrer Familie auch tun. Keinesfalls sollten Kinder zum Fasten gedrängt werden, bevor sie erwachsen sind.

 

Es tut gut, sich an einen Ausspruch Mohammeds zu erinnern, der lautet: "Macht es den Leuten leicht und nicht schwer, verkündet ihnen frohe Botschaft und schreckt sie nicht ab!"

 

 

Montag, 19. 11. 2001

 

Wer in aller Früh in die nächste Stadt zur Arbeit pendelt, hat schon seine eigenen Frühstücksgewohnheiten entwickelt. Mancher steht lieber früher auf, um in aller Ruhe frühstücken zu können, ein anderer bringt früh am Morgen gar nichts hinunter, andere verzehren ihr Frühstück in der Bahn oder im Bus. Die muslimischem Kolleginnen und Kollegen stehen jetzt im Fastenmonat Ramadan ganz sicher früh auf, denn den ganzen Tag heißt es fasten. Ein gutes Frühstück hat sogar der Prophet Mohammed empfohlen. Damit man noch etwas essen kann, läuten die Wecker aber schon lange, bevor es noch hell wird, denn mit der Dämmerung beginnt auch das tägliche Fasten. Um diese Zeit ruft in muslimischen Ländern der Muezzin und vor Sonnenaufgang wird noch das Morgengebet verrichtet. Vielleicht haben Sie das schon einmal im Urlaub gehört und sind davon geweckt worden, wenn die Moschee gleich nebenan war. Aber das bringen auch die vertrauten Kirchenglocken fertig - vor allem in einem idyllischen Bergdorf, wenn das Echo mitspielt.

 

In der Mittagspause werden muslimische Mitarbeiter jetzt nicht in der Kantine sitzen, vielleicht nützen sie die Pause für ihr Mittagsgebet. Etwas später folgt das Nachmittagsgebet und nach Sonnenuntergang kündigt der Ruf des Muezzins das Abendgebet und auch das Fastenbrechen an. Vor dem Schlafengehen kommt noch das Nachtgebet. Die fünf täglichen Gebete sind in unserer hektischen Arbeitswelt oft nur schwer unterzubringen. Wenn es sein muss, kann man sie auch nachholen oder miteinander kombinieren. Im Ramadan reservieren die Muslime aber besonders abends mehr Zeit, um in gemeinsamen Gebeten Gott näher zu kommen.

 

 

Dienstag, 20. 11. 2001

 

Wenn muslimische Mitarbeiter jetzt im Ramadan fasten, fragen sich vielleicht manche Kollegen, wie es mit deren Arbeitsleistung aussieht. Wer den ganzen Tag arbeitet und sich nicht zumindest durch einen Imbiss oder ein Getränk stärken kann, der muss doch "ausgepowert" werden und am Abend ganz schlapp sein?! - Stimmt, das Fasten bringt Anstrengungen mit sich, aber der Zweck ist nicht, die Arbeitsleistung zu reduzieren. Einen gesunden Menschen sollte das Fasten nicht so sehr ermüden, dass seine Leistung nachlässt. Natürlich gibt es dabei Ausnahmefälle und bei schwerer körperlicher Arbeit, womöglich im Freien bei Sommerhitze, muss der Einzelne entscheiden, ob er das Fasten durchhält. Wer wirklich gläubig ist, wird aber nicht nach Ausreden suchen, um sich das Fasten zu ersparen.

 

Hart ist das Fasten oft, wenn man am Computer arbeitet. Ohne den lieb gewordenen Kaffee kann einen der flimmernde Bildschirm an den Rand des Einschlafens bringen, besonders wenn man zum Fastenbeginn früh aufgestanden ist. Aber auch Raucher müssen tagsüber auf ihren Glimmstängel verzichten - was vielleicht eine Gelegenheit wäre, um sich langsam davon zu verabschieden.

Echte Ausnahmen gibt es für kranke, alte und schwache Menschen und für Frauen, die schwanger sind oder stillen, oder andere gewichtige Gründe haben. Wer kann und sich wieder gesund fühlt, wird das Fasten zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Und wenn das nicht möglich ist, dann sollte man als Ersatz für jeden versäumten Fasttag einem Armen das Essen für einen Tag spendieren.

 

 

Mittwoch, 21. 11. 2001

 

"Ja, warum tun die Muslime das eigentlich, den ganzen Tag nichts essen, nichts trinken, nicht rauchen und keinen Sex ...?" wird sich mancher fragen, der von den strengen Fastenbestimmungen gehört hat. Der Fastenmonat bedeutet aber nicht, dass man sich von der Lebensfreude verabschieden müsste. Eigentlich feiern ja die Muslime etwas: es ist nämlich überliefert, dass der Erzengel Gabriel im Monat Ramadan Mohammed die erste Offenbarung überbrachte. Deshalb ist der Fastenmonat eine Zeit, wo abends viel Fröhlichkeit aufkommt und man kann nachholen, was man am Tag versäumt hat. Ratsam ist es, dabei das richtige Maß zu halten - sowohl beim Essen als auch bei anderen Freuden. Bewusst "Maß halten" ist eines der Hauptziele des Ramadan.

 

Am Abend ist Geselligkeit und "Relaxen" angesagt. Bei den Einladungen zum Fastenbrechen trifft man nicht nur die Familie, sondern Leute, die man oft lange nicht gesehen hat. Die Atmosphäre ist entspannt und man hat sich viel zu erzählen. Besonders die Frauen zelebrieren die abendlichen Treffen, die beste Garderobe wird ausgeführt, Neuigkeiten werden ausgetauscht.

 

Aber nicht alles, was man da hört, stimmt fröhlich - manches macht auch traurig. Da ist im Laufe des Jahres ein Familienvater plötzlich verstorben, eine andere Familie musste feststellen, dass das Haus, das man sich im Heimatland mit erspartem Geld erbaut hat, abgebrannt ist .... Auch über solche und ähnliche Schicksalsschläge hört man gerade im Ramadan, wenn alle zusammenkommen. Oft wird dann spontan Hilfe organisiert, man sammelt Geld und jeder gibt, was er oder sie geben kann. Nicht alles kann man damit wieder gut machen - der Trost, den man dadurch spendet, ist viel wichtiger. Dem anderen zu zeigen: "Du bist nicht allein" - das ist vielleicht die wichtigste Botschaft des Ramadan.

 

 

Donnerstag, 22. 11. 2001

 

Als ich vor einigen Tagen mein Auto in die Reparaturwerkstätte bringen wollte, winkte der Mechanikermeister ab: "Mein türkischer Lackierer ist heute nicht da. Bei denen gibt's eine große Remasuri. Da ist was los, da kommen alle Verwandten. Also kommen Sie morgen. Es ist besser, wenn Sie ihm den Lackschaden selber zeigen."

 

Ich war überrascht: "Aber ich habe mir doch den Termin ausgemacht ... wieso ist er dann nicht da?"

 

"Weiß ich nicht," brummte der Chef, "die haben ein Fest, bei dem sie vorher nicht wissen, wann es gefeiert wird. Das hat mit dem Mond zu tun! Aber von mir aus bekommt er den Tag frei, wenn es so weit ist."

 

Jetzt dämmerte es mir: Richtig, die türkischen Muslime feiern heute Bayram. Das Fest wird erst gefeiert, wenn nach dem Neumond die Mondsichel wieder sichtbar ist. Deshalb weiß man nicht genau, auf welchen Tag es fällt. Da ich selber nicht in der glücklichen Lage war, mir den Tag arbeitsfrei zu nehmen und da die meisten Muslime nach dem morgendlichen Festgebet zur Arbeit gehen, war ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass eine kleine Werkstatt so großzügig sein könne, den Tag frei zu geben.

 

Als ich dann einen Tag später wieder in die Werkstätte kam, stand auf dem abgenützten Schreibtisch eine große Schüssel mit orientalischen Süßigkeiten. Es war gerade Frühstückspause und alle langten kräftig zu. Der Chef, der seinem Lackierer zum islamischen Fest freigegeben hatte, lächelte mit vollem Mund und zwinkerte den Mitarbeitern über sein Kaffeehäferl zu.

 

 

Freitag, 23. 11. 2001

 

Die Abwechslung von Fastenzeit und fröhlicher Ausgelassenheit hat in allen Kulturen vieles gemeinsam. Diese Gemeinsamkeiten gibt es auch zwischen der christlichen und der muslimischen Fastenzeit: für beide ist es eine Zeit der tieferen Besinnung, des intensiveren Erlebens.

 

Man hat etwas mehr Zeit: bei den Muslimen fallen die Tagesmahlzeiten komplett weg - und damit auch der ganze Aufwand mit Gabelfrühstück womöglich unterwegs kaufen, Mittagessen kochen und Jause herrichten. Beim christlichen Fasten, das an keine Tageszeit gebunden ist, wird sicherlich etwas einfacher gekocht, vielleicht kalt gegessen .... oder ein "Restl-Essen" zubereitet. Bei den Muslimen werden die "Restln" vom abendlichen Fastenbrechen meist in der Früh vor dem Fastenbeginn aufgewärmt und verzehrt.

 

Da macht man sich dann vielleicht Gedanken, was man sonst mit den Resten tut und was man eigentlich damit anfangen könnte - wie viele Menschen von den Resten eines europäischen Haushalts wohl satt würden? - Bringt eh nichts, wird mancher einwenden, wir können ja nicht einmal die europäische Überproduktion an Nahrungsmitteln zu den Hungernden bringen, und oft genug müssen wertvolles Obst, Gemüse, Getreide, Milchprodukte .... vernichtet werden.

 

Aber vielleicht erleichtert es das Gewissen, wenn im eigenen Haushalt durch die einfachere Fastenkost das Budget entlastet wird, so dass man sinnvolle Hungerhilfe-Projekte finanziell ein bisschen unterstützen kann. Fasten heißt auch teilen mit denen, die unfreiwillig das ganze Jahr über fasten. Es mag altmodisch klingen, aber je gewissenhafter man die Fastenzeit einhält, umso besser schmeckt dann das Essen und umso bewusster erleben wir die sonstigen Genüsse des Lebens.

 

 

Samstag, 24. 11. 2001

 

Das Fest nach dem Fastenmonat Ramadan ist traditionell kein "Fest des Schenkens". Weihnachten war das ja früher auch nicht. Ich erinnere mich an ein österreichisches Schulbuch, in dem das Weihnachtsfest auf dem Land beschrieben war, so wie man es vielleicht vor 60 oder 80 Jahren gefeiert hat. Da gab's Kekse, Kletzenbrot und Winteräpfel, für die Kinder Zuckerln, und die Mutter hatte ihnen neue Fäustlinge und Socken gestrickt. Wichtig war, sich gegenseitig eine Freude zu machen. Das möchte man zwar heute auch, aber der Aufwand wird immer größer.... Man freut sich nicht mehr so leicht über Kleinigkeiten, wo doch in den Schaufenstern alles in Reichweite scheint. Und Dinge, die man sowieso braucht, sind doch kein Geschenk - oder?

 

Diese Einstellung macht sich überall dort breit, wo eine Konsumgesellschaft entsteht - und Muslime sind da keine Ausnahme. Es war zwar schon immer so, dass man zu den islamischen Festen neue Kleider trug. Nun aber sieht es so aus, als hätte die neue Kultur des Schenkens auch in die Ramadan-Festlichkeiten Einzug gehalten. Muslimische Kinder erhalten heute Ähnliches wie ihre Schulkameraden - nur nicht zu Weihnachten, sondern zum Zuckerfest - wie das Fest nach dem Ramadan oft genannt wird.

 

Ob Weihnachts- oder Zuckerfest: wenn es nur noch um Geschenke geht, dann tut es der Stimmung nicht gut. Unauffällige Wohltätigkeit ist den Muslimen deshalb gerade im Ramadan ans Herz gelegt. Wenn man weiß, dass jemand bedürftig ist, dann ist ein praktisches Geschenk oft die Möglichkeit, den anderen nicht zum Spendenempfänger zu machen. Der Beschenkte wird sich mit einer Kleinigkeit revanchieren, und die darf man getrost annehmen: Selbstwertgefühl ist auch ein Geschenk.