Morgengedanken

Sonntag, 09. 12. 2001. 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

 

Morgengedanken Abt Raimund Schreier

 

Sonntag, 9. Dezember 2001 –
2. Adventsonntag

 

Wann weicht die Nacht des Egoismus?

Ein Rabbi fragte einen gläubigen Juden: "Wann weicht die Nacht dem Tag? Woran erkennt man das?" Der versuchte eine Antwort: "Vielleicht wenn man den ersten Lichtschimmer am Himmel sieht? Oder wenn man einen Busch schon von einem Menschen unterscheiden kann?" "Nein," sagte der Rabbi, "die Nacht weicht dem Tag, wenn der eine im Gesicht des anderen den Bruder und die Schwester erkennt. Solange das nicht der Fall ist, ist die Nacht noch in uns."

 

Heute entzünden wir die zweite Kerze am Adventskranz. Wir tun das eher gegen Abend, wenn es schon dunkel wird. Und wir machen das meist im Kreis der Familie oder von Freunden. Im Schein der Adventskerzen sehen wir die Augen leuchten; wir sehen das Gesicht der anderen. Da kann es sein, dass wir den anderen plötzlich in einem ganz anderen Licht erblicken: Wir merken, wie schön eigentlich sein Gesicht ist, welche Ausstrahlung er oder sie hat.

 

Die Adventskerzen könnten uns Licht bringen in die Dunkelheit unseres negativen Schauens, unserer Vorurteile.

 

Ich wünsche uns für heute, dass wir im Gesicht der anderen unseren Bruder und unsere Schwester erkennen. Wenn das geschieht, dann ist nicht mehr Nacht in uns, sondern Tag, Sonntag.

 

 

Montag, 10.Dezember 2001

 

Schenken

Eine indische Legende berichtet: Ein Bauer begegnet mit einem Sack voll Weizen auf dem Rücken dem lieben Gott. "Schenk mir den Weizen!" bittet ihn Gott. Da sucht der Bauer das kleinste Weizenkorn heraus und reicht es dem lieben Gott.

 

Dieser verwandelt das Weizenkorn in Gold und gibt es ihm zurück. Da ärgert sich der Bauer, dass er nicht den ganzen Sack geschenkt hat.

 

Die meisten von uns zerbrechen sich den Kopf, was sie ihren Lieben zu Weihnachten schenken sollen. Das ist gar nicht so leicht in einer Zeit, in der man so ziemlich alles hat, was man braucht und sich wünscht. Und doch sind kleine Geschenke wichtig für unsere Beziehungen: Sie sind ein Zeichen unserer Zuneigung, unserer Liebe, unseres Dankes.

 

Die Adventszeit als Vorbereitung auf das Weihnachtsfest könnte uns jetzt schon einüben lassen in dieses Schenken: so z.B. in das Schenken von Zeit, eines der kostbarsten Geschenke in diesen hektischen Tagen. Beim Schenken dürfen wir aber nicht vergessen auf die, denen es nicht so gut geht, die lange nicht alles haben können, was sie zum Überleben brauchen.

 

Egal welche Geschenke: Gott wird sie alle einmal in Gold verwandeln, in das Gold ewiger Liebe in seinem Reich der ewigen Glückseligkeit.

 

 

Dienstag, 11. Dezember 2001

 

Zeit zum Nachdenken

Im alten China, so wird berichtet, hatte ein Bauer ein kleines Reisfeld oberhalb einer Schlucht.

 

Täglich stieg er mehrmals in die Schlucht hinab, um Wasser für seine Felder hinaufzutragen.

 

Als die Europäer ins Land kamen und den Bauern seine mühsame Arbeit verrichten sahen, boten sie ihm an, eine Pumpe zu bauen, die ihm die ganze Last des Wassertragens ersparen würde. Der Bauer lehnte höflich ab;

 

Könnte ich nicht mehr Wasser tragen, so fehlte mir die Zeit – zum Nachdenken.

 

Die Zeit zum Nachdenken: Große Feste brauchen immer eine Zeit der Vorbereitung. So auch das Weihnachtsfest. Deshalb gibt es die Zeit des Advent. Es ist eine Zeit, in der man sich auf das Geburtsfest des Erlösers vorbereitet. Vorbereitung meint hier weniger das Organisieren des Weihnachtsfestes. Vorbereitung auf Weihnachten geschieht im Innern. Im Nachdenken, im Reflektieren, im Betrachten meines Lebensweges: Bin ich noch auf dem richtigen Weg oder muss ich meinen Kurs etwas korrigieren?

 

Gönnen wir uns solche Auszeiten, Zeiten zum Nachdenken!

 

 

Mittwoch, 12. Dezember 2001

 

Wahre Liebe

Bei einem Rundfunk-Wettbewerb wurde diese Frage gestellt: "Welches ist der schönste Satz, den eine Frau hören kann?"

 

Nach vielem Hin und Her bekam eine junge Frau den ersten Preis.

 

"Der schönste Satz", meinte sie, "den eine Frau zu hören bekommen kann, ist, wenn das Baby nachts um drei zu weinen anfängt und ihr Mann spricht: "Bleib liegen. Ich geh schon!"

 

Bei verschiedensten Adventfeiern, bei Konzerten, im Radio und Fernsehen und manchmal sogar zuhause hört man in diesen Tagen des Advent liebliche alte Weisen und Lieder. Sie besingen das Baby in der Krippe, die liebevolle Mutter Maria und den sorgenden Nährvater Josef. Botschaften der Liebe und Appelle des Friedens werden in dieser Adventszeit geschrieben und vorgetragen. Kinder schreiben ihre Briefe an das liebe Christkind.

 

Die Botschaft des göttlichen Messias, dessen Geburtsfest wir zu Weihnachten feiern, ist jedoch keine romantische. Sie ist sehr konkret! Der erwachsene Jesus von Nazareth hat sie später in der Goldenen Regel zusammengefasst. Sie ist der schönste Satz, den wir Menschen hören können: "Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!" (Mt 7,12).

 

 

Donnerstag, 13. Dezember 2001

 

Gebet

Die Legende erzählt, dass der König einst den alten und gelehrten Mönch Paulinus in seiner Zelle besuchte, um sich bei ihm Rat zu holen. Staunend stand der König vor der Fülle dicker Bücher und Folianten. "Ich beneide dich, Paulinus", sagte er, "dass es dir vergönnt ist, die göttliche Weisheit in all diesen gelehrten Werken einzufangen."

 

"Du irrst", entgegnete der Mönch, und er führte den König in den Stall, wo der Bruder Stallmeister seine Arbeit für ein kurzes Gebet unterbrochen hatte. "Aus diesen gefalteten Händen", sagte Paulinus, "strömt Gottes Kraft in unsere Welt, - nicht aus meinen Büchern."

 

In dieser Zeit des Advent könnten wir im übertragenen Sinn unsere dicken Bücher beiseite legen und die Hände falten. Diese Zeit ist nämlich eine Einladung, unsere Beziehung zu Christus zu vertiefen, im persönlichen Gebet, beim Besuch einer Roratemesse, bei der Andacht in der Familie vor dem Adventskranz.

 

Das Gebet wird uns Kraft geben für den Tag.

 

Das Gebet wird uns wieder bewusst machen, dass unser Leben ein starkes Fundament hat; dass wir keine Angst haben müssen auch nach dem 11. September: Denn dieser dreifaltige Gott ist uns ganz nahe, auch im Leid und im Tod.

 

Aus unseren gefalteten Händen strömt Gottes Kraft in unsere Welt.

 

 

Freitag, 14. Dezember 2001

 

Einander immer wieder verzeihen

Ein neugeweihter Priester machte sich sehr viele Gedanken um seine erste Hochzeitspredigt. Auf einem Spaziergang begegnete er einer alten Frau, der er seine Schwierigkeiten gestand: "Eigentlich weiß ich nicht, was ich den Brautleuten sagen soll!"

"Ach", antwortete sie spontan, "sagen Sie ihnen doch, sie sollen einander immer wieder verzeihen.

 

Einander immer wieder verzeihen!

 

Kennen Sie einen wertvollen Vorsatz für das Weihnachtsfest, an dem die Engel vom himmlischen Frieden singen? Ist es nicht unser aller sehnlichster Wunsch, gerade zu Weihnachten mit allen Menschen in Frieden zu sein, im Herzen versöhnt das Fest zu feiern?

 

Der Advent lädt uns ein, uns auf die Ankunft Christi vorzubereiten, indem wir einander vergeben, uns gegenseitig verzeihen. Fangen wir heute damit an, am besten bei denen, die uns am nächsten sind.

 

Ich wünsche Ihnen für den heutigen Tag viel inneren Frieden und vor allem den Mut und die Kraft, immer wieder zu verzeihen. Dann können wir auch ehrlichen Herzens die Bitte im Vater Unser sprechen: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben, wie auch ich vergebe unseren Schuldigern.

 

 

Samstag, 15. Dezember 2001

 

Teilen

Vor einigen Tagen habe ich von meinem ehemaligen Schüler Stefan einen Brief bekommen, der mir sehr zu denken gab. Ich darf Ihnen einen Ausschnitt daraus vorlesen:

 

In wenigen Wochen ist wieder Weihnachten. Die entsprechenden Dekorationen hängen schon seit Anfang November, und der alljährliche Kaufrausch hat ebenfalls bereits begonnen. Erste kritische Stimmen zum "Konsumfest" wurden auch schon laut. Die vielfach geübte Kritik am vorweihnachtlichen Geschenke-Kaufen führt jedoch leider zunehmend dazu, dass die grundsätzlich positive Geste des Schenkens in Misskredit gerät.

 

Meine Frau und ich haben letztes Jahr damit begonnen. Weihnachtseinkäufe nach folgendem Modell vorzunehmen: Für jeden Schilling, der für Weihnachtsgeschenke aufgewendet wird, spenden wir einen weiteren Schilling für einen guten Zweck.

 

"Die Hälfte für die Lieben – die Hälfte für die Armen" – so nennt Stefan dieses sein Modell. Vielleicht möchten Sie sich dieser tollen Idee anschließen, denn gerade der Advent lädt uns ja wieder ein zum Teilen, zu solidarischen Gesten.

 

Wer teilt, macht immer die beglückende Erfahrung, dass Teilen reichlich belohnt wird. "Geteilte Freude ist doppelte Freude", sagt der Volksmund. Und Christus sagt: "Gebt, dann wird auch euch gegeben werden!"

 

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Adventzeit und viel Freude beim Teilen!