Ein Rabbi fragte einen gläubigen Juden: "Wann weicht die
Nacht dem Tag? Woran erkennt man das?" Der versuchte eine
Antwort: "Vielleicht wenn man den ersten Lichtschimmer am
Himmel sieht? Oder wenn man einen Busch schon von einem Menschen
unterscheiden kann?" "Nein," sagte der Rabbi,
"die Nacht weicht dem Tag, wenn der eine im Gesicht des anderen
den Bruder und die Schwester erkennt. Solange das nicht der Fall
ist, ist die Nacht noch in uns."
Heute entzünden wir die zweite Kerze am Adventskranz. Wir tun
das eher gegen Abend, wenn es schon dunkel wird. Und wir machen das
meist im Kreis der Familie oder von Freunden. Im Schein der
Adventskerzen sehen wir die Augen leuchten; wir sehen das Gesicht
der anderen. Da kann es sein, dass wir den anderen plötzlich in
einem ganz anderen Licht erblicken: Wir merken, wie schön
eigentlich sein Gesicht ist, welche Ausstrahlung er oder sie hat.
Die Adventskerzen könnten uns Licht bringen in die Dunkelheit
unseres negativen Schauens, unserer Vorurteile.
Ich wünsche uns für heute, dass wir im Gesicht der anderen
unseren Bruder und unsere Schwester erkennen. Wenn das geschieht,
dann ist nicht mehr Nacht in uns, sondern Tag, Sonntag.
Montag, 10.Dezember 2001
Schenken
Eine indische Legende berichtet: Ein Bauer begegnet mit einem
Sack voll Weizen auf dem Rücken dem lieben Gott. "Schenk mir
den Weizen!" bittet ihn Gott. Da sucht der Bauer das kleinste
Weizenkorn heraus und reicht es dem lieben Gott.
Dieser verwandelt das Weizenkorn in Gold und gibt es ihm zurück.
Da ärgert sich der Bauer, dass er nicht den ganzen Sack geschenkt
hat.
Die meisten von uns zerbrechen sich den Kopf, was sie ihren
Lieben zu Weihnachten schenken sollen. Das ist gar nicht so leicht
in einer Zeit, in der man so ziemlich alles hat, was man braucht und
sich wünscht. Und doch sind kleine Geschenke wichtig für unsere
Beziehungen: Sie sind ein Zeichen unserer Zuneigung, unserer Liebe,
unseres Dankes.
Die Adventszeit als Vorbereitung auf das Weihnachtsfest könnte
uns jetzt schon einüben lassen in dieses Schenken: so z.B. in das
Schenken von Zeit, eines der kostbarsten Geschenke in diesen
hektischen Tagen. Beim Schenken dürfen wir aber nicht vergessen auf
die, denen es nicht so gut geht, die lange nicht alles haben
können, was sie zum Überleben brauchen.
Egal welche Geschenke: Gott wird sie alle einmal in Gold
verwandeln, in das Gold ewiger Liebe in seinem Reich der ewigen
Glückseligkeit.
Dienstag, 11. Dezember 2001
Im alten China, so wird berichtet, hatte ein Bauer ein kleines
Reisfeld oberhalb einer Schlucht.
Täglich stieg er mehrmals in die Schlucht hinab, um Wasser für
seine Felder hinaufzutragen.
Als die Europäer ins Land kamen und den Bauern seine mühsame
Arbeit verrichten sahen, boten sie ihm an, eine Pumpe zu bauen, die
ihm die ganze Last des Wassertragens ersparen würde. Der Bauer
lehnte höflich ab;
Könnte ich nicht mehr Wasser tragen, so fehlte mir die Zeit –
zum Nachdenken.
Die Zeit zum Nachdenken: Große Feste brauchen immer eine Zeit
der Vorbereitung. So auch das Weihnachtsfest. Deshalb gibt es die
Zeit des Advent. Es ist eine Zeit, in der man sich auf das
Geburtsfest des Erlösers vorbereitet. Vorbereitung meint hier
weniger das Organisieren des Weihnachtsfestes. Vorbereitung auf
Weihnachten geschieht im Innern. Im Nachdenken, im Reflektieren, im
Betrachten meines Lebensweges: Bin ich noch auf dem richtigen Weg
oder muss ich meinen Kurs etwas korrigieren?
Gönnen wir uns solche Auszeiten, Zeiten zum Nachdenken!
Mittwoch, 12. Dezember 2001
Wahre Liebe
Bei einem Rundfunk-Wettbewerb wurde diese Frage gestellt:
"Welches ist der schönste Satz, den eine Frau hören
kann?"
Nach vielem Hin und Her bekam eine junge Frau den ersten Preis.
"Der schönste Satz", meinte sie, "den eine Frau
zu hören bekommen kann, ist, wenn das Baby nachts um drei zu weinen
anfängt und ihr Mann spricht: "Bleib liegen. Ich geh
schon!"
Bei verschiedensten Adventfeiern, bei Konzerten, im Radio und
Fernsehen und manchmal sogar zuhause hört man in diesen Tagen des
Advent liebliche alte Weisen und Lieder. Sie besingen das Baby in
der Krippe, die liebevolle Mutter Maria und den sorgenden Nährvater
Josef. Botschaften der Liebe und Appelle des Friedens werden in
dieser Adventszeit geschrieben und vorgetragen. Kinder schreiben
ihre Briefe an das liebe Christkind.
Die Botschaft des göttlichen Messias, dessen Geburtsfest wir zu
Weihnachten feiern, ist jedoch keine romantische. Sie ist sehr
konkret! Der erwachsene Jesus von Nazareth hat sie später in der
Goldenen Regel zusammengefasst. Sie ist der schönste Satz, den wir
Menschen hören können: "Alles, was ihr von anderen erwartet,
das tut auch ihnen!" (Mt 7,12).
Donnerstag, 13. Dezember 2001
Gebet
Die Legende erzählt, dass der König einst den alten und
gelehrten Mönch Paulinus in seiner Zelle besuchte, um sich bei ihm
Rat zu holen. Staunend stand der König vor der Fülle dicker
Bücher und Folianten. "Ich beneide dich, Paulinus", sagte
er, "dass es dir vergönnt ist, die göttliche Weisheit in all
diesen gelehrten Werken einzufangen."
"Du irrst", entgegnete der Mönch, und er führte den
König in den Stall, wo der Bruder Stallmeister seine Arbeit für
ein kurzes Gebet unterbrochen hatte. "Aus diesen gefalteten
Händen", sagte Paulinus, "strömt Gottes Kraft in unsere
Welt, - nicht aus meinen Büchern."
In dieser Zeit des Advent könnten wir im übertragenen Sinn
unsere dicken Bücher beiseite legen und die Hände falten. Diese
Zeit ist nämlich eine Einladung, unsere Beziehung zu Christus zu
vertiefen, im persönlichen Gebet, beim Besuch einer Roratemesse,
bei der Andacht in der Familie vor dem Adventskranz.
Das Gebet wird uns Kraft geben für den Tag.
Das Gebet wird uns wieder bewusst machen, dass unser Leben ein
starkes Fundament hat; dass wir keine Angst haben müssen auch nach
dem 11. September: Denn dieser dreifaltige Gott ist uns ganz nahe,
auch im Leid und im Tod.
Aus unseren gefalteten Händen strömt Gottes Kraft in unsere
Welt.
Freitag, 14. Dezember 2001
Einander immer wieder verzeihen
Ein neugeweihter Priester machte sich sehr viele Gedanken um
seine erste Hochzeitspredigt. Auf einem Spaziergang begegnete er
einer alten Frau, der er seine Schwierigkeiten gestand:
"Eigentlich weiß ich nicht, was ich den Brautleuten sagen
soll!"
"Ach", antwortete sie spontan, "sagen Sie ihnen
doch, sie sollen einander immer wieder verzeihen.
Einander immer wieder verzeihen!
Kennen Sie einen wertvollen Vorsatz für das Weihnachtsfest, an
dem die Engel vom himmlischen Frieden singen? Ist es nicht unser
aller sehnlichster Wunsch, gerade zu Weihnachten mit allen Menschen
in Frieden zu sein, im Herzen versöhnt das Fest zu feiern?
Der Advent lädt uns ein, uns auf die Ankunft Christi
vorzubereiten, indem wir einander vergeben, uns gegenseitig
verzeihen. Fangen wir heute damit an, am besten bei denen, die uns
am nächsten sind.
Ich wünsche Ihnen für den heutigen Tag viel inneren Frieden und
vor allem den Mut und die Kraft, immer wieder zu verzeihen. Dann
können wir auch ehrlichen Herzens die Bitte im Vater Unser
sprechen: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben, wie auch
ich vergebe unseren Schuldigern.
Samstag, 15. Dezember 2001
Teilen
Vor einigen Tagen habe ich von meinem ehemaligen Schüler Stefan
einen Brief bekommen, der mir sehr zu denken gab. Ich darf Ihnen
einen Ausschnitt daraus vorlesen:
In wenigen Wochen ist wieder Weihnachten. Die entsprechenden
Dekorationen hängen schon seit Anfang November, und der
alljährliche Kaufrausch hat ebenfalls bereits begonnen. Erste
kritische Stimmen zum "Konsumfest" wurden auch schon laut.
Die vielfach geübte Kritik am vorweihnachtlichen Geschenke-Kaufen
führt jedoch leider zunehmend dazu, dass die grundsätzlich
positive Geste des Schenkens in Misskredit gerät.
Meine Frau und ich haben letztes Jahr damit begonnen.
Weihnachtseinkäufe nach folgendem Modell vorzunehmen: Für jeden
Schilling, der für Weihnachtsgeschenke aufgewendet wird, spenden
wir einen weiteren Schilling für einen guten Zweck.
"Die Hälfte für die Lieben – die Hälfte für die
Armen" – so nennt Stefan dieses sein Modell. Vielleicht
möchten Sie sich dieser tollen Idee anschließen, denn gerade der
Advent lädt uns ja wieder ein zum Teilen, zu solidarischen Gesten.
Wer teilt, macht immer die beglückende Erfahrung, dass Teilen
reichlich belohnt wird. "Geteilte Freude ist doppelte
Freude", sagt der Volksmund. Und Christus sagt: "Gebt,
dann wird auch euch gegeben werden!"
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Adventzeit und viel Freude beim
Teilen!