Morgengedanken

Sonntag, 30. 12. 2001. 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

von OKR Dr. Hannelore Reiner  v.d. Evang. Kirche (Wien)

 

zu Paul Gerhardts Neujahrslied:

Nun lasst uns gehen und treten

 

Sonntag, 30.12.2001

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer an diesem letzten Sonntag im Jahr. Der Countdown läuft, die Tage des Jahres 2001 sind gezählt. Unwillkürlich denke ich zurück an das vergangene Jahr. Aber nicht wie die Zeitungen, in denen sich ein Großereignis an das andere reiht. Ganz privat rufe ich mir dieses oder jenes aus der Erinnerung in mein Bewusstsein. Bilanzieren nennen das die Fachleute. Die guten und belastenden Erfahrungen summieren und gegeneinander abwägen. War es ein gutes Jahr? Habe ich allen Grund, dankbar zu sein, vielleicht auch stolz auf das, was geschehen konnte? Oder macht mich dieses Bilanzieren depressiv und drückt mich nieder? Wie kann so bilanziert werden, dass weder ich noch andere den kürzeren dabei ziehen?

 

Mitten im 30-jährigen Krieg zieht der evangelische Pfarrer Paul Gerhardt auch eine solche Jahresbilanz. Bei ihm klingt es geradezu sonntäglich-feierlich:

"Nun lasst uns gehn und treten mit Singen und mit Beten zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft gegeben."

 

Das Überdenken des zu Ende gehenden Jahres lässt diesen Mann weder auf seinen Lorbeeren ausruhen noch macht es ihn antriebslos. Dankbar hält er Ausschau und singend schreitet er voran. Er weiß sich, heute und immer, umgeben von der Kraft eines Größeren.

 

 

Montag, 31.12.2001

"Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern, wir leben und gedeihen vom Alten bis zum Neuen..."

 

Mit diesen kurzen Zeilen aus dem Neujahrslied von Paul Gerhardt wünsche ich Ihnen einen guten Morgen. Eine Binsenweisheit gibt der Dichter da von sich. Natürlich gehen wir von einem Jahr zum andern und viele werden heute Nacht ins neue Jahr hinübertanzen. Geht es tatsächlich so einfach, dass aus Alt Neu wird? Heute noch das alte Jahr bis 24 Uhr und morgen ein Neues, 2002? Man muss bloß die Stunden absitzen oder in fröhlicher Runde mit Musik und Spiel auskosten. Und schon läutet die Pummerin und ertönt der Donauwalzer: Das Neue Jahr ist da!

 

Der Liederdichter aus dem 17. Jahrhundert weiß sehr genau, dass es mehr braucht als bloß eine neue Jahreszahl, damit ein neuer Geist in diese Welt kommt. Aber er ist voll Hoffnung, dass alle Möglichkeiten in diesem Neuen Jahr schlummern; dass das Leben gedeihen kann, seins und auch das der andern.

 

Das lässt ihn fröhlich und gelassen über die Jahresschwelle gehen.

 

 

Dienstag, 1.1.2002

Eine langjährige ältere Freundin hat mir einen guten Weg durch das Neue Jahr gewünscht. Die Formulierung ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen: Einen guten Weg! Das bedeutet: Ich habe mir selbst meinen Weg im neuen Jahr zu suchen und ich muss ihn auch selber gehen, gleich, wie er aussehen mag und was es an gefährlichen Kurven darin geben wird.

 

Paul Gerhardt, der evangelische Liederdichter aus der Zeit des 30-jährigen Krieges sieht das auch so und doch ist da noch mehr, wenn es in seinem Neujahrslied heißt:

"Sprich deinen milden Segen zu allen unsern Wegen, lass Großen und auch Kleinen die Gnadensonne scheinen."

 

Unter Gottes Segen wird der Weg durch das neue Jahr 2002 ein guter sein. Besonders schön finde ich, dass dieser Vers auch der Kleinen gedenkt. Die kleinen Füße können noch nicht so weit ausschreiten und legen trotzdem die meisten Wege vor lauter Eifer gleich doppelt zurück. Unter Gottes Gnadensonne sollen und können die Kleinen, von den Großen geleitet, gute Wege gehen – und manchmal wird es auch umgekehrt sein und die Kleinen lehren uns Große den guten Weg.

 

 

Mittwoch, 2.1.2002

"Gelobt sei deine Treue, die alle Morgen neue. Lob sei den starken Händen, die alles Herzleid wenden."

 

Mit einem Lied auf die Treue Gottes beginnt der Liederdichter Paul Gerhardt das Neue Jahr. Ich kann seine Sehnsucht nach etwas Beständigem im Leben gut nachvollziehen. Da war der Krieg, da waren persönliche Anfeindungen und immer wieder musste er übersiedeln samt seiner großen Familie und ein neuer Anfang unter fremden Menschen in einer anderen Gemeinde stand ins Haus. Da tat es gut, sich der Treue Gottes zu vergewissern.

 

In unserer Zeit zeigen verschiedene Untersuchungen und Umfragen, dass ebendiese Sehnsucht nach Treue, nach etwas, das Bestand hat, wieder einen hohen Stellenwert bekommen hat, besonders auch bei der Jugend. Menschen erfahren täglich, dass alles sehr kurzlebig ist, vom Auto angefangen bis zu den menschlichen Beziehungen, von der neuen Währung, dem EURO, ganz zu schweigen. Da keimt ganz von selber der Wunsch nach etwas, das bleibt. Der Dichter vertraut sich der Treue Gottes an, er spürt, auch wenn Schweres auf mich zukommen sollte; da ist einer, dem mein Herzleid, meine Unsicherheit und meine Traurigkeit beim Abschied nicht gleichgültig sind. Sein Angesicht bleibt uns Menschen zugewandt.

 

 

Donnerstag, 3.1.2002

Paul Gerhardt, der evangelische Liederdichter aus der Zeit des 30-jährigen Krieges, hatte sich an der evangelischen Nikolaikirche in Berlin gut eingerichtet. Hier konnte er seine Begabungen als Pfarrer einsetzen. Es gab sogar einen kongenialen Kantor, der seine Gedichte mit Melodien versah, die von der Gemeinde mit Freude aufgenommen und gerne gesungen wurden.

 

Aber eines Tages – wegen einer Lappalie würden wir heute sagen – musste Paul Gerhardt seine Gemeinde verlassen. In einer Strophe seines Neujahrsliedes heißt es:

"Ach Hüter unsres Lebens, fürwahr es ist vergebens mit unserm Tun und Machen, wo nicht dein Auge wachen."

 

Da scheint ein Mensch durch, der am eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren und erleiden musste, dass sich – auch bei besten Vorsätzen – manches ganz anders entwickeln kann. Vornehmen und planen, dichten und denken, tun und machen, kann uns von heute auf morgen aus der Hand genommen werden. Sensible Menschen wie Gerhardt geraten in solchen Situationen an den Rand des Verzweifelns. Der Dichter aber hat anderes im Sinn. Er will und braucht sich mehr festzubeißen an Erfolg und Misserfolg. Er kann gelassen nach vorne schauen, denn, was immer auch geschieht, der Hüter des Lebens wacht über ihn und darum ist es auch gut, so wie es kommt.

 

 

Freitag, 4.1.2002

Paul Gerhardt, der große Dichter des 30-jährigen Krieges, dessen Lieder noch immer zu den bekanntesten evangelischen und neuerdings auch römisch-katholischen Kirchenliedern zählen, lässt oft sehr persönliche Erfahrungen in seinen Texten durchschimmern. Seine letzten Dienstjahre als Pfarrer waren überschattet von Abschied und Trauer. Vier seiner fünf Kinder starben binnen kurzer Zeit an einer der damals grassierenden Seuchen und auch seine Frau wird – lang vor ihrer Zeit – dahin gerafft. Die Schwermut legte sich je länger, je mehr auf das Herz des Dichters und ließ schließlich seine dichterische Ader ganz versiegen. Als ob er dies schon voraus geahnt hätte, bittet er in seinem Neujahrslied:

"Hilf gnädig allen Kranken, gib fröhliche Gedanken den hochbetrübten Seelen, die sich mit Schwermut quälen."

 

Jeder zehnte Österreicher leidet an Depression, sagt die Statistik. Gleich, was immer der Auslöser dafür sein mag. Mobbing am Arbeitsplatz etwa oder Kündigung oder auch eine belastende Diagnose, die Schwermut hat viele Möglichkeiten, sich in der Seele festzusetzen. Es wäre schon eine Hilfe, wenn die Gesunden sich gerade diesen Kranken besonders zuwenden. Denn Zuwendung zaubert noch immer ein Lächeln ins Gesicht und lässt wenigstens ab und zu einen fröhlichen Gedanken das Herz erfüllen. Das aber lässt aufleben, auch am heutigen Tag.

 

 

Samstag, 5.1.2002

"Schließ zu die Jammerpforten und lass an allen Orten auf soviel Blutvergießen die Freudenströme fließen."

 

Mit diesen betenden Zeilen des Liederdichters Paul Gerhardt wünsche ich Ihnen einen guten Morgen und ein friedvolles Jahr.

 

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat es kein Jahr gegeben, wo nicht in irgendeinem Teil der Welt gekämpft worden und Blut geflossen ist. Die eingestürzten Türme von Manhattan, das zerbombte Afghanistan und der Kampf im autonomen Palästina sind zwar geografisch viel weiter von Österreich entfernt als Sarajewo oder der Kosovo. Aber die Schreckensbilder sind auch vielen bei uns unter die Haut gegangen. Der internationale Kampf gegen den Terrorismus, aus dem sich auch Österreich nicht ausklammern kann und darf, ist auf beklemmende Weise nahe gerückt.

 

Was kann ein einzelner Mensch schon ausrichten gegen Terror und Machtpolitik? Wer kann dem Blutvergießen Einhalt gebieten?

 

Das Neujahrslied des evangelischen Pfarrers Paul Gerhardt ist ein Gebet. Er weiß, dass er gegen die strategischen Kämpfe derer, die sich als die Herren der Welt gebärden, nichts ausrichten kann. Darum bittet er um Frieden und um den großen Gegenstrom, der den Sog des Hasses überwindet. Wer um Frieden fleht, der muss und wird bei sich anfangen. Erziehung zum Frieden ist ein tägliches Einüben, sind viele kleine Schritte, die etwas in Fluss bringen bei uns und auch anderswo.

 

Ich bin voll Hoffnung, dass bei solchem Einüben die Erfahrung des Liederdichters auch die unsere wird: Tränen werden getrocknet und stattdessen werden Freudenströme fließen und uns mitnehmen, uns und unsere Kinder.