Morgengedanken
Sonntag, 24. 03. 2002. 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios
"Die kleinen Leiden" - von Pfarrer
Dr. Christoph Weist
Palmsonntag, 24. März. 2002
Die Chemie
In dieser Woche, der Woche vor Ostern, der
"Karwoche", gibt es traditionellerweise ein großes Thema:
das Leiden. Das schreckliche Leiden eines Mannes, der schließlich
am Kreuz gestorben ist. Mit diesem großen Leiden hat es zu tun,
wenn ich heute morgen vom kleinen Leiden spreche.
Lässt es Sie etwa, so ganz kalt, wenn Sie
angesichts eines anderen Menschen feststellen: Zwischen dem oder der
und mir "stimmt die Chemie nicht". Immer gibt es
Misstrauen, Verstimmung, unterschwellige Vorwürfe, schlimmstenfalls
offenen Streit. Muss das sein? Entstehen da nicht so viele unsinnige
innere und äußere Belastungen?
An Menschen, die so leiden, möchte ich heute morgen
denken. Ich habe kein Rezept für sie. Ich will ihnen nur zeigen,
dass ihre Schwierigkeit ernst genommen wird. Auch sie sind
mitgemeint mit dem Leiden des Mannes aus Nazareth, von dem die
christliche Botschaft sagt, es sei für alle Menschen geschehen.
Denn das Leiden, das kleine wie das große, ist Bestandteil eines
jeden Lebens. Man sollte nur wissen, dass es Menschen gibt, mit
denen man darüber sprechen kann. Der erste Sonntag der Karwoche,
vielleicht bietet er dazu eine Gelegenheit?
Montag, 25. März 2002
Ausgeliefert
Ausgeliefert sein. Seit alter Zeit ist die Woche vor
Ostern dem Gedenken daran gewidmet, dass einer ausgeliefert war:
Jesus von Nazareth war ausgeliefert denen, die ihn folterten und am
Kreuz zu Tode brachten. Das war eine große Aktion mit großen
Folgen. Aber kennen Sie, nicht auch das kleine Ausgeliefert sein?
Den Stau auf der Autobahn. Nichts geht mehr weiter,
meinen Termin kann ich vergessen. Oder der Zug hat Verspätung,
zwanzig, dreißig Minuten. Man wird um Verständnis gebeten, das man
aber nicht mehr aufbringt. Oder eine E-Mail lässt sich partout
nicht öffnen, und man sollte doch unbedingt wissen, was einem da
mitgeteilt wurde. Man fühlt sich ausgeliefert.
Ich denke, so ein "kleines Leiden" ist gar
nicht weit entfernt ist von jenem "großen" Leiden, an das
die Christenheit in der Passionszeit denkt. Das tägliche
Ausgeliefertsein an die großen Gesetzmäßigkeiten, die sich
Menschen eigentlich als Hilfe zum Leben ersonnen haben, macht das
Leben schwer. Nur, scheitern muss man nicht daran. Dass das große
Leiden Jesu zur großen Auferstehung führte, heißt auch, dass mein
kleines Leiden nicht alles ist. Und dass ich gut daran tue, mich den
größeren Dingen des Lebens zuzuwenden.
Dienstag, 26. März 2002
Probleme der Technik
Als sein Auto auf der Dienstreise jene merkwürdigen
Geräusche produzierte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Als dann
die Werkstatt sagte, das gute Stück müsse lediglich "über
Nacht" hier bleiben, ergriff ihn Nervosität. Und als er dann
am Handy vernahm, was man auf der Sitzung, die er versäumt hatte,
beschlossen hatte, verspürte er einen Leidensdruck.
Das, muss nicht in einer Karwoche geschehen sein.
Die Karwoche ist dem großen welterlösenden Leiden Christi
gewidmet. Aber auch die kleinen Leiden sind gemeint mit der
Überlieferung vom Leiden Christi. Denn sie bestimmen unser Leben im
Kleinen wie im Großen zum Beispiel die Frage nach dem Tod.
Passion kann also auch heißen: leiden an der
Technik, am Straßenverkehr, an einem Atomkraftwerk. Passion heißt
aber auch wissen, dass Menschen unabhängig sind. Als Jesus in einem
Verhör aufgefordert wurde, sich zu verteidigen, schwieg er, - nicht
aus Hilflosigkeit, sondern aus Unabhängigkeit. Eine Souveränität,
die wir uns zunutze machen könnten, wen wir nur wollten. Dann wäre
so manches kleine Leiden entmachtet vom großen Leiden der Passion
Jesu.
Mittwoch, 27. März 2002
Zeitdruck
Die kleinen Leiden können zur großen Passion
werden. Mich zum Beispiel macht Unpünktlichkeit ganz krank. Ich
leide darunter, wenn ich irgendwo zu spät kommen muss, mehr noch,
wenn andere zu spät kommen. Das verursacht Zeitdruck, und hier
fängt das Leiden an, das kleine Leiden im Vergleich zum großen
Leiden, an das man in der Karwoche denkt.
In der Bibel, dem Buch, auf das sich der christliche
Glaube stützt, ist von Großem und von Kleinem die Rede. Vom
großen, bedeutsamen Leiden des Jesus von Nazareth, aber auch von
den kleinen Leiden der Menschen im täglich Umgang miteinander.
Einmal, im sogenannten Buch Daniel, wird Gott beschrieben als der
Gott "von Ewigkeit zu Ewigkeit", der zum Beispiel Könige
ein - und absetzen kann. Und, so heiß es: "Er ändert Zeit und
Stunde." (Dan 2,21)
Das könnte heißen: Gott steht über der Zeit - und
über dem Druck, den sie erzeugt.
Die Uhr ist nicht alles. Das kleine Leiden an ihr
muss nicht zum großen Leid werden. Menschen stehen andere
Maßstäbe zu. Sie können sich ruhig ein bisschen Freiheit nehmen.
Das hilft nämlich zum besseren Leben.
Gründonnerstag 28. März 2002
Unzuverlässigkeit
Manchmal glaubt man, es wird ärger. Ich meine das,
was man so allgemein die "Unzuverlässigkeit" unter
Menschen nennt. Da werden tolle Dinge versprochen und nicht
eingehalten - und nicht nur in der Werbung. Da werden Pläne
geschmiedet, und vergessen - und nicht nur am Stammtisch. Oder es
wird ganz Selbstverständliches einfach nicht beachtet: "Ach
so, habe ich dich nicht angerufen? Tut mir ehrlich leid."
Solche Erfahrungen der Unzuverlässigkeit gehören
zu jenen kleine Leiden, die den Alltag beeinträchtigen. Es sind
gewiss keine großen Leiden, die hier eine Rolle spielen, wie jenes,
an das man in der Karwoche denkt. Aber sie machen deutlich, was
zwischen Menschen nicht stimmt.
Vielleicht ist es einfach so, dass Menschen verlernt
haben, sich ernst zu nehmen und sich die Folgen vorzustellen, die
ein Verhalten für andere hat. In der Bibel jedenfalls wird der
Mitarbeiter als "tüchtig" gelobt, der "im Geringsten
treu" gewesen ist. Von dem, dessen großes Leiden in dieser
Woche das Thema ist, von Jesus (Lk 19,17). Treue "im
Geringsten" vermeidet das kleine Leiden, Verlässlichkeit im
Kleinen schafft Sicherheit und Mut, Neues in Angriff zu nehmen. Denn
nur wenn die kleinen Voraussetzungen stimmen, tragen die großen
Visionen.
Karfreitag, 29. März 2002
Depression
Manchmal wächst mir alles über den Kopf. Wenn ich
nachts aufwache, liegt alles wie ein riesengroßer Berg vor mir. Was
ist, wenn ich‘s nicht schaffe?
Das mag ein kleines Leiden sein gemessen an dem
Leiden Christi, an das der Karfreitag erinnert. Ich denke aber, dass
im großen Leiden Christi sich auch die kleinen Leiden der Menschen
wiederfinden.
Der verzweifelte Gebetsschrei des sterbenden
Christus vom Kreuz herab: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?" wurde überliefert, damit auch wir uns darin
hören können. Das "kleine Leid" unserer Überforderung,
unseres Nichtkönnens, unserer Aussichtslosigkeit ist zu Karfreitag
mitgemeint. Und mitgemeint ist auch die Hoffnung, die das
Karfreitagsgeschehen trotz allem umgibt. Die Hoffnung, dass sich
Dinge ganz unsinnigerweise wenden können, dass aus Karfreitag
Ostern wird, aus Überforderung Ruhe und Erholung, aus Ruhe neuer
Überblick und neue Chancen. Auch der Karfreitag ist nicht der
letzte aller Tage, und ein Morgen, umgeben von dunklen Schatten,
kann einen strahlend hellen Tag einleiten. Und den wünsche ich
Ihnen auch heute, auch am Karfreitag.
Karsamstag, 30. März 2002
Verachtung
Ein Mensch ist nicht wie der andere, es gibt
Unterschiede. Das ist wahr. Nicht wahr ist, dass diese Unterschiede
zwischen Menschen bedeuten, dass es bessere und schlechtere Menschen
gibt, höhere und niedrigere. So weit, so selbstverständlich.
Warum leiden dann aber so viele Menschen unter dem
Gefühl, von anderen einfach nicht geachtet zu werden? Da geht der
Prokurist täglich grußlos am Pförtner vorbei. Da zeigen im
Besprechungszimmer kleine Bemerkungen: Du Gesprächspartner bist mir
nicht im Geringsten wichtig, ich halte nichts von dir, ich rede mit
dir nur, weil ich muss. Das ist ein kleines Leiden, das aber vom
Leiden der Karwoche, vom Leiden Christi, nicht allzu weit entfernt
ist.
"Du, was verachtest du deine Bruder? Wir werden
alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden." Das hat in
einem Brief ein sehr früher Christ geschrieben, der Apostel Paulus
(Röm 14,10). Für mich ist das nicht etwa eine Drohung am frühen
Morgen. Für mich ist es eine Erinnerung daran, dass es eine Instanz
gibt, die auf Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung achtet. Und
nicht nur bei Brüdern, sondern natürlich auch bei Schwestern. Das
große Leiden Gottes hat diesen Gott auch für die kleinen Leiden
der Menschen sensibel gemacht.
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