Morgengedanken

Sonntag, 21. 04. 2001. 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

 

 

von OKR Dr. Michael Bünker (Wien)

 

 

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt...

 

 

Sonntag, 21. April 2002

Freunde, dass der Mandelzweig

wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Diese Liedzeile von Schalom Ben Chorin geht mir in den blühenden Frühlingstagen nicht aus dem Sinn.

Einen blühenden Mandelzweig sieht man in Osterreich nicht überall. Das Klima ist in den Bergen zu rau.

Aber zum Beispiel im Burgenland, im Seewinkel, da habe ich sie schon oft gesehen: Noch sind alle anderen Pflanzen unbelaubt und dürr, noch hängt der Winter tief drinnen in den Garten und Weinbergen, noch sind Kälte und Finsternis tonangebend, da blühen sie auf: Kleine, zarte Bäume sind über und über voll mit zarten weiß rosa Blüten. Wie feine himmlische Federstriche im Grau der Welt. Als hätten Engel ihr Flügelkleid abgelegt und hätten wieder bei uns Wohnung genommen. Und der Duft der Mandelblüten! Seit ich es zum ersten mal gesehen habe, ist der blühende Mandelzweig ein Zeichen geworden, dass der Frühling kommt.

Unwiderstehlich.

Und dass Kälte und Finsternis weichen müssen, dass nicht das Dunkle und der Tod das letzte Wort haben, sondern das Leben.

Jeden Sonntag feiern Christinnen und Christen diesen Sieg des Lebens. Sie feiern die Auferstehung Jesu. Der blühende Mandelzweig des Glaubens.

 

 

Montag, 22. April 2002

Freunde, dass der Mandelzweig

wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Das Lied vom blühenden Mandelzweig ist von Schalom Ben Chorin gedichtet worden. Schalom Ben Chorin wurde 1913 in München geboren. Da hieß er Friedrich Rosenthal. Friedrich Rosenthal war Jude. In den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde er von den Nazi mehrmals verhaftet, 1935 ist er geflohen, nach Jerusalem, und hat seinen Namen ins Hebräische übertragen. Aus Friedrich, wo der Frieden drinnen steckt, wurde Schalom. Und statt Rosenthal nannte er sich Ben Chorin, Sohn der Freiheit. Also bedeutet der Name: Frieden, Sohn der Freiheit.

Eine sehr schöne und biblische Deutung. Denn von Anfang an ist die Bibel erfüllt von der Botschaft, dass Frieden nur möglich ist in Freiheit, dass auch der Glaube an Gott nach Freiheit ruft. Deshalb befreit Gott sein Volk aus der Sklaverei, damit es zu Frieden und wahrem Glauben findet.

Das, denke ich, ist auch heute ein wichtige Botschaft. Zum Beispiel in den tiefen Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern im heiligen Land. Wie soll es Frieden geben, wenn es keine Freiheit gibt? Erst wenn beide Völker in Freiheit leben können, erst dann wird Frieden möglich sein.

Im heiligen Land gibt es viele Mandelbäume. Ob ihre Botschaft Gehör findet?

 

 

Dienstag, 23. April 2002

Freunde, dass der Mandelzweig

wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Schalom Ben Chorin hat später erzahlt, dass er dieses Lied in einer sehr schweren Zeit seines Lebens geschrieben hat.

Es war 1942, er saß gerade in seinem Arbeitszimmer und hat aus dem Fenster gesehen. Die Gedanken sind weit gewandert. Vielleicht an die scheinbar unüberwindliche Macht der Nazis, 1942, die mit ihrem Terror ganz Europa überzogen haben. Vielleicht auch an die Jüdinnen und Juden überall dort, wo der Naziterror hinkam.

Im Jänner 1942 wurde in Berlin die sogenannte Endlösung beschlossen, im März gab es die ersten Transporte in die Vernichtungslager. Und über all diesen schrecklichen Gedanken, vielleicht hat Schalom Ben Chorin mehr geahnt als gewusst, fällt sein Blick aus dem Fenster auf den Mandelbaum der da steht und blüht.

Was soll das für ein Zeichen sein? Was kann schon ein solches kleines unscheinbares Zeichen bedeuten gegen all die schrecklichen Nachrichten, die furchtbaren Bilder, die Tag für Tag über die Menschen hereinströmen?

Für den einen Menschen da im Frühling 1942 in Jerusalem wurde der Mandelzweig zu einem Zeichen, das ihm etwas sagt.

Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch solche Zeichen erhält und sie auch für sich deuten kann. Heute will ich wieder besonders achtsam sein dafür.

 

 

Mittwoch, 24. April 2002

Freunde, dass der Mandelzweig

wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.

Schalom Ben Chorin, der diese Zeilen geschrieben hat, hat keine Naturidylle beschrieben. Er war kein Romantiker, er war ein Mensch der Bibel, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Er wusste, dass das gewaltsam vergossene Blut zum Himmel schreit. Und dass es nicht immer eine Antwort gibt. Die Vernichtung des Lebens hat Einzug gehalten in die Welt. Dem Nazikrieg ging es nicht bloß um Sieg und Raumgewinn, es ging von allem Anfang an um Vernichtung.

Der Vernichtungswille betraf ganz besonders die Jüdinnen und Juden in Europa. Millionen von ihnen wurden umgebracht. Fast wäre es gelungen, sie alle zu töten. Aber das Leben ist nicht vergangen.

Es gibt wieder jüdische Gemeinden, Synagogen werden neu gebaut, wie in Graz oder in Dresden, eindrucksvolle Mahnmale erinnern an die Opfer und an die Schuld der Täter, zu denen viele Christen und Österreicher gehörten.

Es ist biblischer Hoffnungsglaube, dass im Angesicht dieses ungeheuren Leids ein kleiner blühender Mandelzweig ein Zeichen sein kann für den Sieg des Lebens. Menschenskind, was siehst du? Fragt Gott den Propheten Jeremia, und der antwortet: ich sehe einen erwachenden Zweig.

Heute werde ich meine Augen offen halten, nicht wegsehen, vielleicht ist auch mir gegeben, so ein Zeichen wahrzunehmen.

 

 

Donnerstag, 25. April 2002

Freunde, dass der Mandelzweig

wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit,

achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.

Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.

Doch des Lebens Blütensieg sanft im Winde weht.

Es war gerade diese Zeile vom Krieg, die Schalom Ben Chorin vorgehalten wurde. Wird da nicht der Krieg wie eine übermenschliche Macht dargestellt, etwas, das wie von selbst geschieht, etwas, das nicht von Menschen gemacht, angezettelt, und verantwortet wird?

Und richtig: ich erinnere mich an ein Bild des Künstlers Alfred Kubin aus dem Jahr 1901, wo der Krieg dargestellt ist als übergroße Figur, wie der griechische Kriegsgott Ares mit Helm und Keule in der Hand und er hebt seinen riesigen Fuß und unter dem Fuß sieht man winzig klein, wie Ameisen, wie Ungeziefer, die Menschen.

Gleich wird der Fuß niedersausen.

Nichts wird von den Menschen übrig bleiben.

Tausende zerstampft der Krieg.

Muss das immer so sein?

Viele denken vom Krieg wie von einem Naturereignis wie Regen oder Wind. Gerade in den kriegerischen Auseinandersetzungen unserer Zeit, den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien oder den Kriegen, die gegen den Terrorismus geführt werden, ist zu sehen: Krieg löst kein Problem, Krieg ist das Problem.

Oft bleiben wichtige Fragen ungeklärt: Wie soll es danach weitergehen?

Wie sollen die Kinder und Enkel der kriegführenden Gruppen miteinander leben?

Von Jesus gibt es das Vorbild der gewaltfreien Konfliktlösung. Christinnen und Christen erinnern daran, wenn wieder irgendwer wo sagt: Krieg wird es immer geben.

Nein, wird es nicht.

Weil der Mandelzweig des Glaubens blüht.

 

 

Freitag, 26. April 2002

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?

Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.

Doch des Lebens Blütensieg sanft im Winde weht.

Freunde, dass der Mandelzweig sich in Bluten wiegt,

bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.

So hat Schalom Ben Chorin gedichtet, im Jahr 1942. Wenige Jahre nach Kriegsende ist er wieder in Deutschland. Er sucht den Kontakt, das Gespräch, den Dialog. Besonders der Dialog mit den Christen liegt ihm, dem Juden, am Herzen.

Er schreibt ein Buch über Jesus und nennt ihn seinen großen jüdischen Bruder. So wie Jesus an Gott geglaubt hat, so voller Vertrauen, voller Hingabe und Liebe, dass er ihn liebevoll Vater nennt, so glauben Juden an Gott, so glauben Christen.

Der Glaube Jesu vereint uns, meint Schalom Ben Chorin. Was uns trennt, ist der Glaube an Jesus.

Christen sehen in ihm den Messias, der schon gekommen ist, Juden tun das nicht.

Schalom Ben Chrorin bleibt in Jerusalem, im Staat Israel, der 1948 gegründet wurde. Er tritt ein für Dialog, Verständigung, das Gespräch. Solange man miteinander spricht, wird nicht geschossen, das ist schon ein Fortschritt, meinte Ben Chorin einmal.

Das ist gar nicht leicht. Die Menschen neigen eher dazu, untereinander zu bleiben, nicht das Gespräch, den Dialog zu suchen, es muss oft mühevoll gelernt werden.

Ich will am heutigen Tag versuchen, ein Gespräch mit jemanden zu fuhren, mit dem oder der ich noch nie gesprochen habe. Vielleicht nur ein kleiner Schritt, wie ein blühender Zweig.

 

 

Samstag, 27. April 2002

Im Jahr 1999 ist Schalom Ben Chorin gestorben. Er war 85 Jahre alt.

Wenige Jahre davor ist sein kleines Gedicht vom blühenden Mandelbaum vertont worden und zu einem Lied geworden. Es wird gerne in den Kirchen bei Gottesdiensten gesungen. Es ist ein sehr biblisches Lied. Der Text erinnert uns an die Stelle beim Propheten Jeremia, wo es heißt (1,11-12): "Und es geschah des Herrn Wort zu mir: Jeremia, was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen erwachenden Zweig. Und der Herr sprach zu mir. Du hast recht gesehen, denn ich will wachen über meinem Wort, dass ich's tue."

Dafür steht der blühende Zweig. Nicht nur für die Wiederkehr des Lebens im Kreislauf der Jahreszeiten. Diese Naturbotschaft hat nicht das letzte Wort. Der Schöpfer dieser Natur, Gott, sein Wort ist die Botschaft.

Er wacht über seinem Wort, dass es getan werde. Und Gott verspricht, dass er es selbst tun will.

Was ist das?

Es ist das Versprechen, dass Gerechtigkeit und Frieden blühen werden, dass es keinen Krieg mehr gibt und dass die gute Lebensweisung Gottes gelebt wird.

Das ist die biblische Hoffnung, von der Juden wie Christen leben. Von dieser großen Hoffnung gibt es hier nur kleine Zeichen. Das ist die besondere Art Gottes.

Gegen das Obermaß von Unheil, leid und Schuld kleine Zeichen zu setzen: Ein Senfkorn, ein Reis aus der Wurzel des Jesse, ein einziges Wort, ein Kind in einer Krippe oder eben einen blühenden Mandelzweig.