Morgengedanken
Sonntag, 12. 05. 2002. 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios
Berthold
Mayr (Wels, OÖ)
Sonntag,
12. Mai 2002
Manchmal
kann ich das Wort „Liebe“ nicht mehr hören. Der Verschleiß
diese Wortes ist groß, auch in der Kirche. Wie glatt geht es den
Verkündern von. den Lippen, etwa wenn es heißt, dass Gott die
Liebe sei. Oder wenn gefordert wird: „Liebet einender." Ist
es nicht absurd und unmenschlich, alle Menschen nett zu finden;
ebenso absurd übrigens, wie alle Menschen für erotisch
begehrenswert zu halten. Neigung, Sympathie, Anziehung sind zutiefst
menschlich und lebensnotwendig. Aber für das Verständnis der Liebe
reichen sie nicht aus.
Wenn
es heißt, wir sollen sogar diejenigen lieben, die wir hassen, dann
heißt: das nicht, wir sollten uns einreden, wir fänden sie
sympathisch. Das hieße sich seelisch verrenken. Ein falsch
verstandenes Liebesgebot bringt viel Heuchelei und falsche Harmonie
hervor. Wir lächeln, wo wir heulen oder zornig werden sollten. Wir
tun so, als gäbe es ein versöhntes Miteinander ohne vorausgehenden
Streit. Im alten Testament ist recht nüchtern von der Liebe die
Rede. Treu, verlässlich, solidarisch ist Gott mit den Menschen. So
sollen auch wir lieben. Solidarisch kann ich auch mit einem sein,
den ich nicht leiden kann. Ich muss nicht alle gern haben.
Montag,
13. Mai 2002
Ein
Eistee-Hersteller hat sich in einer groß angelegten Aktion an die
Schulen mit einer Bitte gewandt. Schüler und Lehrer möchten doch
gemeinsam und kreativ nach einem Begriff suchen, den die deutsche
Sprache nicht kennt. Sie sollten ein Wort erfinden für den Zustand
des Nicht-mehr-durstig-Seins. Wer keinen Hunger hat, ist satt. Wer
aber keinen Durst mehr hat, ist... Ja, was ist er?
Tag
für Tag verspricht uns die Werbung die Stillung unseres Durstes.
Doch ist es eigenartig, dass uns ein Wort für den Zustand nach dem
Durst fehlt. Der sprachliche Mangel, die Wort-Leerstelle entspricht
jedoch genau unserer menschlichen Grundgegebenheit. Wir müssen
unbedingt und in vergleichbar kurzen Abständen immer wieder
trinken, um nicht krank zu werden, um nicht zu sterben. So wird der
Durst zum Symbol für die Unausweichlichkeit und Unstillbarkeit des
menschlichen Verlangens überhaupt. Jesus ist einmal auf diese
Dursterfahrung eingegangen, er sagt: „Wer von diesem Wasser
trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinkt,
das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben. Das Wasser,
das ich ihm geben werde, wird zur sprudelnden Quelle werden, deren
Wasser ewiges Leben schenkt.“
Dienstag,
14. Mai 2002
Ich
begreife nicht, dass Gott manches Gebet nicht erhört. Wozu solle es
gut sein, dass drei kleine Kinder ihre Mutter verlieren? Warum erhört
Gott nicht das Gebet dieser Kinder, die ihn inständig darum bitten,
dass ihre Mutter wieder gesund wird? Sind ihre Gebete nur Schall und
Rauch? Ich kenne gläubige Menschen, die fest davon überzeugt,
sind: Wenn du richtig betest, dann gibt, dir Gott auch das, worum du
bittest. Sie weisen auf Kranke hin, die auf wunderbare Weise geheilt
wurden. Aber, was ist mit all den anderen, die nicht wieder gesund
wurden? Beten sie nicht richtig? Haben dann die drei Kinder nicht
innig genug gebetet? Das kann ich nicht glauben. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Gott die Mutter hat sterben lassen, weil ihre
Kinder nicht die rechten Worte fanden. Oder haben sie es nicht
verdient, dass ihre Mutter wieder gesund wird?
Sagen
wir doch lieber: Gott kann nicht alles. Er kann nicht verhindern,
dass die Krebszellen weiterwuchern. Er kann die Naturgesetze uns
zuliebe nicht außer Kraft setzen. Gott kann den unerbittlichen
Verlauf einer Krankheit nicht ändern. Trotzdem bin ich der Meinung,
dass wir nie umsonst beten. Beten bringt immer etwas. Das Gebet
bringt mich näher zu Gott.
Mittwoch,
15. Mai 2002
Ein
fünfjähriger Bub ist Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Beim
Trauergottesdienst sang die Gemeinde das Lied: „Was Gott tut, das
ist wohlgetan.“ Ist das die Reaktion des Menschen auf Leid,
Schmerz, Enttäuschung? Ich denke, dass die Sprache des Leidens die
Klage ist. Wo wird in unseren christlichen Kirchen geklagt? An die
Stelle von Klage ist die Bitte getreten. Es hat ja eine Zeit gegeben
in der es unanständig war, zu klagen. "Lerne leiden ohne zu
klagen". Im bürgerlichen Leben ist die Klage vor Gericht etwas
durchaus Positives. Wo Unrecht geschehen ist, darf und soll die
Anklage erhoben werden.
Wo
einer leiden muss, ohne dass er selbst dieses Leiden verschuldet
hat, hat er das Recht zu klagen.
Verdorrt
nicht das Leben selbst, wenn ich keine, Sprache mehr habe, für all
das, was in mir vorgeht. Sprache finden vor Gott für das, was ich wünsche
und beklage, das ist doch beten? Das Unglück muss ich aussprechen.
Wer wirklich etwas will, der klagt, lobt, flucht, schreit. Der
verbirgt seine Wünsche nicht still in seinem Herzen. Denn stumme Wünsche
sind bald keine Wünsche mehr.
Donnerstag,
16. Mai 2002
Religionssoziologische
Untersuchungen haben ergeben: unter älteren Menschen wachsen die
Glaubenszweifel. Ich kann das nur bestätigen. Glaubensüberzeugungen,
in der Jugend mehr oder weniger fraglos übernommen wurden, geraten
plötzlich in die Krise. Glaubensinhalte, die einmal als
sinnstiftend erfahren wurden, verlieren ihre Bedeutung. Zwei Drittel
der jüngeren Alten, so die Untersuchung, glaubten inzwischen nicht
mehr an die Auferstehung. Jüngere religiös interessierte Menschen
haben natürlich auch ihre Glaubenszweifel. Aber sie setzen sich
damit auseinander, sie interessieren sich auch für alternative
Glaubensvorstellungen. Ältere Menschen fallen nach Phasen des
Zweifelns eher in eine Sinnkrise und können überhaupt nichts mehr
glauben.
Auch
ich habe einmal die Vorstellungen gehabt, dass die Menschen mit den
fortschreitenden Jahren automatisch religiös werden. Das ist ein
verhängnisvoller Irrtum. Ohne Anleitung und Auseinandersetzung
werden sie den Zugang zu den Lehren der Kirchen nicht finden.
Wenigstens eines wünsche ich mir: ich möchte als älterer Mensch
mit meinen Glaubenszweifel ernst genommen werden.
Freitag,
17. Mai 2002
Bin
ich ein Götzendiener? Könnte es sein, dass die Lächerlichkeit
meines Glaubens auf eine lächerliche Gottesvorstellung zurückzuführen
ist? Ist mein Glaube ein haltbares Trockengesteck anstelle
lebendiger Blumen? Das Problem der Ersatzreligion ist das Problem
der Ungeduld irgendwann erträgt man das Schweigen Gottes nicht
mehr. Da wird dann das Bild wichtiger als die ehrliche Ferne Gottes.
Nur allzumenschlich, die erfinderische Suche nach Ersatz. Bibel erzählt
vom eifersüchtigen Gott, da heißt es: „Fertige dir kein
Gottesbild an. Wirf dich nicht vor fremden Göttern nieder. Denn ich
der Her, dein Gott, verlange von dir ungeteilte Liebe.“
Nicht
das Bild als solches ist schlimm, sondern seine Mächtigkeit als
Ersatz. Glaubenskrisen erweisen sich bei näherem Zusehen als
Zerbrechen eines falschen, Gottesbildes. Der lebendige Gott ist;
unheimlich anders. In solchen Situationen hängt alles davon ab,
dass ich mein Bild aufgeben kann. Auch auf die Gefahr hin, vorläufig
im Dunkeln zu stehen. Wer Ferne nicht ertagen kann, taugt nicht zur
Nähe.
Samstag,
18. Mai 2002
Pfingsten
sind die Geschenke am kleinsten", so hat Bert Brecht einmal
gespöttelt. Von den drei großen Festen der Christen – Ostern,
Weihnachten, Pfingsten - spielt, das dritte die kleinste Rolle im
Bewusstsein vieler Christen.
Im
Alten Testament wird erzählt, dass Menschen in Babel einen Turm
bauen bis hinein in die Wolken. Aber dann verwirrt Gott ihre
Sprache. Da können sie sich nicht mehr verstehen – und hören mit
dem Bauen auf. Am Pfingsttag in Jerusalem verstehen die Menschen
alle die Botschaft von Jesus, obwohl sie verschiedene Sprachen
sprechen, aber kein Wort Hebräisch. Zu Pfingsten in Jerusalem
konnten sich die Menschen verstehen. Wie war das möglich? Eine
Handvoll Menschen, Männer und Frauen, total verunsichert was ihre
Zukunft anging und voller Probleme. Aber offen. Offen dafür, sich
von dem Geist Jesu anstecken zu lassen. Und diese einfachen Menschen
werden verstanden.
Offensein
- wer das je versucht hat, weiß, wie viel das ist. Dass morgen ein
Pfingststurm uns bewegt, ohne dass wir uns bewegen, damit sollten
wir nicht rechnen.
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